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Bestimmung analytisch gewonnen; wenn zu dem Ergebnisse: es seien
Glieder, die in schöpferischer, gegenseitiger Berührung erst ent-
wickelt werden — so ist das ebenfalls rein analytisch gewonnen.
Aber diese Ergebnisse selbst drängen zu philosophischen Folgerun-
gen.
Der individualistische Standpunkt führt, sofern er das Ich durch-
aus selbstherrlich, autark denkt, zu einer prometheischen Lebens-
und Weltauffassung, wie etwa bei Friedrich Nietzsche und Max
Stirner. Das Logische, das Ästhetische usw. erscheint hier nur als
Ausfluß individueller (autarker) Willkür. Auch die Monadenlehre,
wenigstens von gewisser Seite her gesehen, und jede Art von Plu-
ralismus sind solche Folgerungen, wie sie aus strengsten Fassungen
des Autarkiebegriffes sich ergeben. — Dem absoluten Autarkiebe-
griffe entspricht ferner der / Nominalismus, den man auch logi-
schen Individualismus genannt hat. Danach kann es nichts Allge-
meines, nur Individuelles geben. Das Allgemeine ist nicht einmal
Begriff, sondern nur leerer Name (daher auch „Terminismus“)
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.
Wird die Selbstwüchsigkeit bloß kasuistisch gefaßt, das heißt
erscheint der Mensch als jeweilig schlechthin g e g e b e n e r Be-
wußtseinsinhalt, der zu jedem bestimmten Zeitpunkte eine be-
stimmte Summe selbständiger Gegenwirkungen zu üben vermag,
als eine Summe jeweils gegebener autarker Wirkungskraft; dann
stellt sich das Individuum zwar auch in jedem möglichen Falle als
Fertiges dar (der Staat als ein Vertrag usw.); aber über die Weiter-
bildungsfähigkeit der geistigen Teilkräfte, wie ihrer Gesamtheit, ist
damit keineswegs in rein autarkem Sinne entschieden. Gerade die
kasuistische Betrachtung führt dann zu einem Widerspruch in der
Gesamtanschauung, den man kaum für möglich hielte. Unsere mo-
dernen naturwissenschaftlich arbeitenden Soziologen, zum Beispiel
Herbert Spencer, um ein Vorbild zu nennen, unterliegen ihm ganz
besonders. Derselbe Mensch, der als seelisch autarke Wesenheit und
Bürger den Staatsvertrag schließt, erscheint in jedem Einzelfalle als
Erzeugnis objektiver Entwicklungsvorgänge! In seiner Sittlichkeit,
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Lehrreich und tröstlich ist es, zu sehen, wie die moderne Naturwissen-
schaft sich anschickt, vom Nominalismus wieder zu einer Art Universalienlehre
zurückzukehren, indem sie die Art als eigenes Ganzes, als einen „höchst plan-
vollen Organismus, dessen Organe die Individuen“ sind, betrachtet. Vgl. Jakob
von Üxküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, Gesammelte Auf-
sätze, eingeleitet von Felix Groß, München 1913.