Previous Page  259 / 749 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 259 / 749 Next Page
Page Background

[211/212]

259

vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfes, das zweite

erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, ins Unendliche durch meine

Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit unab-

hängiges Leben offenbart. . In diesen herrlichen Worten spricht Kant mit einer

Klarheit, die dem Geiste unmittelbar einleuchtet, den Triumph der moralischen

Welt über das Naturgesetz, die bloße empirische Existenz, aus. Was der Verstand

über den Lauf der Sterne sagt, vernichtet / den Menschen als eine vergängliche

Existenz; das moralische Bewußtsein, das eine vom Kausalen unabhängige, ewige

Welt in sich trägt, richtet ihn wieder auf. Für uns ist an der Lehre vom Primat

der praktischen Vernunft wesentlich, daß sich der Einzelne in der Besinnung auf

sein sittliches Dasein, der er den Primat in seinem Wesen zuschreiben muß,

ganz vollendet, sich in der Besinnung auf seine moralische Wesenheit s e l b s t

g e n u g ist.

B. B e u r t e i l u n g

Faßt man dieses Ergebnis vom gesellschaftstheoretischen Stand-

punkte aus ins Auge, so ergibt sich folgender Begriff des menschli-

chen Ich oder Bewußtseins bei Kant:

(1)

Das Bewußtsein ist vollständig durch sich selbst, eigengesetz-

lich, bestimmt, sowohl moralisch wie erkennend — ein Ergebnis,

das wohl jede nicht-empiristische Philosophie im Grunde bejahen

muß, sofern der Selbsttätigkeit des Ich eine überbauende Ganzheit

nicht fehlt. Kant hat nun diese überbauende Ganzheit im Begriffe

des „Bewußtsein überhaupt“ wohl geahnt, aber nicht festgehalten.

Daher folgt bei ihm:

(2)

diese moralische Autonomie wird zugleich als empirische

Autarkie des Einzelnen gefaßt. Der Einzelne selbst ist es, der dieses

Werk vollbringt, der Begriff des apriorischen Bewußtseins wird

subjektivistisch bestimmt. Die V i e l h e i t d e r E i n z e l n e n

i s t z u r V o l l e n d u n g d e s i n d i v i d u e l l e n G e i s t e s

w e d e r a u s e i n e m e r k e n n t n i s t h e o r e t

i

s

c

h

e

n

n o c h a u s e i n e m s i t t l i c h e n G r u n d e n o t w e n d i g .

Kant bestimmt den Menschen rein aus seiner Ichform, er begreift

ihn nicht als Glied einer geistigen Gemeinschaft; daher bleibt es

in erkenntnistheoretischer Hinsicht bei der subjektiven „Einheit

der Apperzeption“, in sittlicher bei der subjektiven Autonomie. —

Dem entspricht:

(3)

Die Vielheit der Individuen ist für Kant vollständig irrational

und seine individuelle Sittlichkeit niemals zu wahrer gesellschaft-

licher Sittlichkeit fortgebildet worden Kantens moralisches Grund

17