258
[210/211J
sche Gesetz nur formal, es geht nur auf Übereinstimmung der Ver-
nunft mit sich selbst, nicht auf den Inhalt des Gewollten. „Es ist
überall nichts in der Welt“, sagt Kant zu Beginn seiner „Grundle-
gung zur Metaphysik der / Sitten“, „ja überhaupt auch außer der-
selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden als allein ein g u t e r W i l l e.“
1
Dieser stützt
sich nur auf die Gültigkeit der vernünftigen Gründe als solche, auf
das Vernunftgesetz, ist als gehorchender Wille gut, nicht in An-
sehung bestimmter Inhalte und Triebe. Auf welche besonderen In-
halte ein Wille ausgeht, wo hinein jeder seine Glückseligkeit zu set-
zen habe, kommt auf das besondere Gefühl von Lust und Unlust an,
welches das individuelle Begehrungsvermögen enthält. Vom blo-
ßen Inhalte her kann darum der gute Wille, das Moralische nicht
konstruiert werden.
Dieses rein formale Grundgesetz der praktischen Vernunft, der
„kategorische Imperativ“, lautet nach Kant: „Handle so, daß die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allge-
meinen Gesetzgebung gelten könne.“
Das wichtigste Ergebnis der Kantischen Erkenntniskritik und Sittenlehre darf
hier nicht unerwähnt bleiben, obzwar es nicht unmittelbar in unseren jetzigen
Gedankenkreis gehört. Es ist die Lehre vom sogenannten Primat oder Vorrang
der praktischen Vernunft über die theoretische — zugleich die höhere Grundlage
und der tiefste Gehalt der Kantischen Philosophie. Der Kern dieser Lehre ist,
daß das moralische („praktische“) Element in uns den obersten Bestimmungsgrund,
das tiefste Wesen unserer Existenz ausmache, nicht das theoretische (logische,
rationalistische) Element. Da somit die menschliche Existenz im Ethischen wurzelt,
so hat das Ethische gegenüber dem Logischen den Vorrang, den Primat. Nicht
Rationalismus, sondern Ethizismus ist daher das Kantische System. Die theore-
tische Vernunft, so folgert Kant, läßt die M ö g l i c h k e i t v o n F r e i h e i t
offen (auf dem Gebiete der Noumena, in der intelligiblen Welt); die praktische
Vernunft stellt dagegen die F r e i h e i t a l s G e s e t z dar, nämlich des reinen
Willens. Wenn daher die praktische Vernunft gewisse Begriffe (Gott, Freiheit,
Unsterblichkeit) als Postulate ergibt, welche die theoretische Vernunft nicht ein-
sieht (ihnen aber auch nicht widerspricht), hat sie selbe anzunehmen, „sich be-
scheidend, daß dieses nicht ihre Einsichten... sind“, sondern „Erweiterungen
ihres Gebrauches in ... einer andern, nämlich praktischen Absicht“
2
. „Zwei
Dinge“ — so sagt Kant am Schlusse seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ —
„erfüllen das Gemüt mit immer zunehmender. .. Bewunderung..., je ... anhal-
tender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und
das moralische Gesetz in mir.. . Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge
1
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, erster
Abschnitt, S. 1, Anfangsworte.
2
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, S. 155.