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als die Aufzeigung des künstlerisch Richtigen, des ästhetisch Wert-

vollen. Denn das Richtige ist hier wie in der Logik und überall ein

Wertbegriff. Kritik ist die Zurückführung des Kunstwerkes auf die

letzte Grundlage wahrer Kunstschätzung. (Zu sagen, welches diese

Grundlage und Norm sei, ist Sache der Ästhetik selber, nicht der

Gesellschaftslehre

1

.) Wegen der unentbehrlichen V e r m i t t l u n g

zwischen dem großen schöpferischen Geiste und der bunten Menge

künstlerisch nur wenig Aufnahmefähiger erfüllt die Kritik eine

Kultursendung im wahrsten geschichtlichen Sinne.

Winckelmann und seine Nachfolger haben uns das Verständnis

der Alten wieder erschlossen, Lessing dem germanischen Geiste

seinen Shakespeare, die Brüder Schlegel und die Romantiker haben

der ganzen Menschheit Calderón und die mittelalterliche Poesie

wie das Verständnis der Gotik wieder geschenkt und auch als erste

Goethe erklärt. Diese Kritiker — denen noch Tieck und Adam Mül-

ler hinzuzufügen sind — haben eine R a n g o r d n u n g d e r

K u n s t w e r k e geschaffen, welche für die deutsche Bildung, ja

für die ganze Welt, noch heute maßgebend ist. E i n e s o l c h e

L e i s t u n g k a n n a l s g e s e l l s c h a f t l i c h e n i c h t h o c h

g e n u g v e r a n s c h l a g t w e r d e n u n d h a t g e s c h i c h t -

l i c h e B e d e u t u n g . Man denke auch an Burckhardt und die

Renaissancekunst, an Wagners Hervorhebung Beethovens, das unser

Musikleben bis heute bestimmt (während ein Erklärer Mozarts der

Welt noch immer fehlt); man denke endlich in der jüngeren Zeit

an Ferdinand Avenarius’ Erweckung von Mörike / und an das

große Ereignis der Heimatkunstbewegung. — Was solche und ähn-

liche kritische Arbeiten als künstlerischen Wert festgesetzt haben,

darauf ist dann die künstlerische Entwicklung ganzer Zeitalter ein-

gestellt.

Im besonderen sind zu unterscheiden:

die schöpferische Eingebung und ihre Gestaltung;

der Kunstverstand des sein Werk zu Ende führenden und feilenden Künst-

lers;

die Kritik;

und schließlich die Kunsterklärung oder Deutung im eigentlichen Sinne,

z. B. die Erklärung der 9. Symphonie, der Melancholie, des Märchens im

Ofterdingen, des Faust.

Die Erklärung führt die Gestalt auf ihren gewußten Inhalt, ihre Begriffs-

grundlage zurück und steht der Kritik nahe, ist aber mit ihr nicht einerlei. —

1

Siehe dazu aber oben S.

309

.