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indem man die Traumerfahrung und Gesichte durch falsche Schlüsse auf den
Tod überträgt.
Insbesondere entstehe auf diese Weise die allen Naturvölkern eigene Über-
zeugung von der U n s t e r b l i c h k e i t und ferner die A h n e n v e r e h r u n g ,
der sogenannte „Manismus“ (Theorie der Ahnenverehrung von Herbert Spen-
cer und anderen).
Wird die ganze Natur beseelt gedacht, so ergibt sich der A n i m i s m u s oder
die A l l b e s e e l u n g s l e h r e
1
.
Um die Jahrhundertwende stellte sich dem Animismus Tylors der „ P r ä a n i -
m i s m u s “ entgegen, über den wir später berichten
2
.
Einige untergeordnete Erklärungsversuche sind:
3 . D e r E u h e m e r i s m u s
Euhemeros (um 300 v. Chr.) behauptete, daß alle Götter ursprünglich Men-
schen gewesen seien, die später durch die Sage idealisiert wurden (Idealisierungs-
theorie). — Auch hier ist der Schritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen nicht
erklärt, sondern stillschweigend übergangen.
4 .
D i e R e l i g i o n a l s k l u g e E r f i n d u n g z u r
S i c h e r u n g d e r s o z i a l e n O r d n u n g
Schon die Sophisten Griechenlands haben den Gedanken verfochten, besonders
kluge Staatsmänner und schlaue Priester hätten ihre Gebote als von Gott gegeben
verkündet, um diesen damit mehr Nachdruck zu verleihen. Eine eigentliche
Theorie der Religion kann diese Lehre und der Euhemerismus nicht genannt
werden, da das vorgebliche Göttliche seinem Wesen und seiner Entstehung nach
dabei vielmehr vorausgesetzt als erklärt wird. — Von größerer Wichtigkeit sind
dagegen die
5 . P s y c h o l o g i s c h e n T h e o r i e n
Alle die angeführten Theorien sind insofern zugleich auch psychologische Theo-
rien, als sie bestimmte seelische Vorgänge wie „primitive Kausalität“, „Zauber-
glauben“, „Geister- und Seelenglauben“ auf ihre psychologischen Gründe zurück-
führen und darin die Wurzel der Religion aufdecken wollen. Die Erklärung des
Wesens der Religion auf / dieser Grundlage kann man im allgemeinen „reli-
giösen Psychologismus“ nennen. — In einem engeren Sinne „psychologisch“ sind
aber jene Theorien, welche die Religion aus einem „transzendentalen Triebe“,
„Hang zum Übersinnlichen“, kurz, einem seelischen Trieb erklären, der aber
keineswegs innere Verbindlichkeit, innere Wahrheit in sich haben muß, ja nicht
einmal haben kann; sondern so wie andere Gefühle, z. B. Hoffnung, Furcht,
1
Edward Burnett Tylor: Primitive Culture, z Bde, 1. Aufl., London 1871,
seither viele Auflagen, deutsche Ausgabe: Die Anfänge der Kultur, übersetzt von
Johann Wilhelm Spengel und Friedrich Poske, 2 Bde, Leipzig 1873; Anthro-
pology, London 1881.
2
Siehe unten unter „Ethnologische Schule“, S. 390 ff.
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