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religiösen Entwicklung aller indogermanischen Völker voraus. Da-
neben war das Bestreben vorhanden, die indogermanische Mythen-
bildung an die Naturerscheinungen und den Sternenhimmel anzu-
knüpfen (meteorologische Richtung).
„Die Hoffnungen und Verheißungen der etymologischen Schule“, sagt Sam
Wide
1
, „haben sich nicht erfüllt, und hierzulande hat diese mythologische /
Richtung kaum einen einzigen namhaften Vertreter. Schon die verschiedenen
Resultate. . . haben kein Vertrauen zu ihrer Methode ergeben können: der eine
sucht im Regen, der andere im Sturm, der dritte im Morgen- und Abendrot die
Quelle der indogermanischen Mythenbildung, dieselbe göttliche Gestalt wurde
als Erde, Luft, Wolke, Mond gedeutet. Ein Grundfehler dieser Richtung lag
darin, daß sie gänzlich unhistorisch war . . . “
Daß die meteorologische Schule zur Erklärung der Religionen
nicht dienen kann, zeigt sich nicht nur in der Willkür bei der Deu-
tung der sachlichen Zusammenhänge (wie sie die angeführte Äuße-
rung Sam Wides richtig hervorhebt), es liegt vielmehr noch an
einem grundsätzlichen Mangel des Standpunktes. Die meteorologi-
sche Schule vergißt, daß die Deutung der Vorgänge am Sternen-
himmel als göttlicher (statt als natürlich-physikalischer) n o t w e n -
d i g R e l i g i o s i t ä t s c h o n v o r a u s s e t z t . Das Bewußt-
sein des Göttlichen, die Erklärung der Religiosität, muß daher
vor der Erklärung dieses Bewußtseins und vor seiner Anwen-
dung auf den Sternenhimmel stehen! Die Deutung des Sternen-
himmels kann nur dann religiös sein, wenn die Religiosität, wenn
der Urgrund des Glaubens schon da ist. Der Glaube wird im Herzen
getragen, er wird nicht vom Sternenhimmel abgelesen. Ist aber der
Glaube einmal da, dann freilich kann er auch in den Vorgängen
am Sternenhimmel einen Gegenstand finden. Und dann wird man
allerdings ein Körnchen Wahrheit in der meteorologischen Schule
anerkennen müssen. Man denke an die uralte A s t r o l o g i e ,
welche das irdische Geschick von den der Geburt vorstehenden
Gestirngottheiten abhängig macht, und an die philosophische Lehre
des Aristoteles von den Gestirngottheiten.
1
Sam Wide und Martin Paul Nilsson: Einleitung in die Altertumswissen-
schaft, herausgegeben von Alfred Gercke und Eduard Norden, Bd 2, Teil 4:
Abschnitt: Griechische Religion, 3. Aufl., Leipzig 1922, S. 270. — Vgl. dagegen
Otto Hausers Einleitung zu seiner vorzüglichen Übersetzung der Edda,
Weimar 1925.