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allen anderen Kulturinhalten. Der Vorrang des Wissens vor der

Kunst sodann, der am ehesten überraschen könnte, ergibt sich all-

gemein daraus, daß erst / das Gewußte (das Geschaute) künstle-

risch dargestellt, ausgedrückt, gestaltet werden kann.

In Religion, Philosophie, Wissen und Kunst entfaltet sich glei-

chermaßen, jedoch in verschiedenen Formen, das Übersinnliche.

Wird das Wissen nach seiner wahren Wurzel verstanden, nämlich

als ein Schauen des Gegenstandes und dieses Schauen als Grundlage

des darauffolgenden Zerlegens gefaßt, schauendes und zerlegendes

(intuitives und diskursives) Denken also geschieden, dann zeigt sich

klar, daß auch im Denken das Geschaute der Hauptbestandteil ist

und zugleich — als ein Irrationales — in die metaphysische Wurzel

alles Geistigen hinabreicht. Wissenschaft steht hinter Philosophie-

Religion an metaphysischem Gehalt zurück, aber sie entbehrt ihn

nicht! Auch ihr ist er die tiefste, die letzte Wurzel. Dieses Verhält-

nis kommt in Friedrich Schlegels Gedicht „Geistes Licht“ schön zum

Ausdruck.

„Geistlich wird umsonst genannt,

Wer nicht Geistes Licht erkannt;

Wissen ist des Glaubens Stern,

Andacht alles Wissens Kern,

Lehr’ und lerne Wissenschaft,

Fehlt Dir des Gefühles Kraft

Und des Herzens frommer Sinn,

Fällt es bald zum Staube hin.“

Der zerlegende (diskursive, rationale) Teil der Wissenschaft da-

gegen ist mehr dienend als führend und bildet mehr ein Zivilisa-

tions- als ein Kulturelement, ähnlich dem Stande von Wirtschaft

oder Technik. Solche rationale Wissenschaft als herrschendes Ele-

ment macht die Kultur selbst zu einer rationalen, was sie aber ihrem

tieferen Wesen nach nicht sein kann. Die Kultur und ihr Leben

rationalisiert gedacht, ergibt einen widerspruchsvollen Begriff.

Rationalisierte Kultur ist ein hölzernes Eisen, ihre Größe ein töner-

ner Koloß.

Einer besonderen Überlegung bedarf das V o r r a n g v e r h ä l t n i s z w i -

s c h e n P h i l o s o p h i e u n d K u n s t . Philosophie heißt, unter Hinweg-

gehen über die leibhaftigen Dinge und alles Einzelne in der Welt, dem Über-

sinnlichen selber zuzustreben, das dahinter steht; Kunst heißt, in diesen Dingen

und Wesenheiten verharren, heißt, sie umgekehrt gerade als Darlebungen, Ge-

staltungen des kosmischen Wesens empfinden. Philosophie ist die Flucht von