428
[355/356]
allen anderen Kulturinhalten. Der Vorrang des Wissens vor der
Kunst sodann, der am ehesten überraschen könnte, ergibt sich all-
gemein daraus, daß erst / das Gewußte (das Geschaute) künstle-
risch dargestellt, ausgedrückt, gestaltet werden kann.
In Religion, Philosophie, Wissen und Kunst entfaltet sich glei-
chermaßen, jedoch in verschiedenen Formen, das Übersinnliche.
Wird das Wissen nach seiner wahren Wurzel verstanden, nämlich
als ein Schauen des Gegenstandes und dieses Schauen als Grundlage
des darauffolgenden Zerlegens gefaßt, schauendes und zerlegendes
(intuitives und diskursives) Denken also geschieden, dann zeigt sich
klar, daß auch im Denken das Geschaute der Hauptbestandteil ist
und zugleich — als ein Irrationales — in die metaphysische Wurzel
alles Geistigen hinabreicht. Wissenschaft steht hinter Philosophie-
Religion an metaphysischem Gehalt zurück, aber sie entbehrt ihn
nicht! Auch ihr ist er die tiefste, die letzte Wurzel. Dieses Verhält-
nis kommt in Friedrich Schlegels Gedicht „Geistes Licht“ schön zum
Ausdruck.
„Geistlich wird umsonst genannt,
Wer nicht Geistes Licht erkannt;
Wissen ist des Glaubens Stern,
Andacht alles Wissens Kern,
Lehr’ und lerne Wissenschaft,
Fehlt Dir des Gefühles Kraft
Und des Herzens frommer Sinn,
Fällt es bald zum Staube hin.“
Der zerlegende (diskursive, rationale) Teil der Wissenschaft da-
gegen ist mehr dienend als führend und bildet mehr ein Zivilisa-
tions- als ein Kulturelement, ähnlich dem Stande von Wirtschaft
oder Technik. Solche rationale Wissenschaft als herrschendes Ele-
ment macht die Kultur selbst zu einer rationalen, was sie aber ihrem
tieferen Wesen nach nicht sein kann. Die Kultur und ihr Leben
rationalisiert gedacht, ergibt einen widerspruchsvollen Begriff.
Rationalisierte Kultur ist ein hölzernes Eisen, ihre Größe ein töner-
ner Koloß.
Einer besonderen Überlegung bedarf das V o r r a n g v e r h ä l t n i s z w i -
s c h e n P h i l o s o p h i e u n d K u n s t . Philosophie heißt, unter Hinweg-
gehen über die leibhaftigen Dinge und alles Einzelne in der Welt, dem Über-
sinnlichen selber zuzustreben, das dahinter steht; Kunst heißt, in diesen Dingen
und Wesenheiten verharren, heißt, sie umgekehrt gerade als Darlebungen, Ge-
staltungen des kosmischen Wesens empfinden. Philosophie ist die Flucht von