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hafte Gültigkeit. Das Wesenhafte ist aber das Wahre. Wahr ist der
Begriff, der das Wesen enthält.
Da alles Wesenhafte nur im Kosmos oder All wesenhaft ist, stoßen wir hier
wieder auf das schon in einem anderen Zusammenhange als richtig erkannte
Wort Heraklits: „Und es nähren sich alle menschlichen Gesetze von dem Einen
göttlichen“; ferner auf die altarische Urformei: W e l t o r d n u n g = O p f e r -
o r d n u n g = R e c h t s o r d n u n g . — Und in demselben Sinne heißt es in
den Upanischaden: „D i e s e s i s t H e r r s c h e r d e s H e r r s c h e r s , w a s
d a s R e c h t i s t (dharma). Daher auch der Schwächere gegen den Stärkeren
seine Hoffnung setzt auf das Recht, gleich wie auf seinen König. Fürwahr, was
dieses Recht ist, das ist die Wahrheit (satyam).“
1
Was ist nun in der Gesellschaft „wesenhaft“? Gesellschaftlich we-
senhaft ist nur das Ganze. Es allein ist erstes Wesen oder Prius.
Die Glieder haben nur abgeleitetes, teilnehmendes Wesen. Was
dem G a n z e n g e g e n ü b e r n i c h t w e s e n h a f t a n d e n
G l i e d e r n i s t , d i e s e s i s t d a s U n r e c h t , ist das wesen-
haft nicht Gültige und eine die Ganzheit zerstörende und damit sich
selbst zerstörende Scheinmacht. Wie auch umgekehrt: Was den Glie-
dern gegenüber nicht wesenhaft ist, dieses ist das Unrecht. Denn das
Ganze wird in den G l i e d e r n geboren. Was das Wesenhafte an
den Gliedern ist, ist es auch im Ganzen und, als wesensgemäße, eine
echte, aufbauende Macht.
Das Ganze erkannten wir in seiner Eigenschaft als objektiven
Geist schon früher als den T r ä g e r d e s G u t e n , als der Sub-
stanz nach das Gute seiend. Daher ist die vom Ganzen oder vom
Gliede aus als wesenhaft sich zeigende Macht auch das Gute.
In der Gesellschaft oder im objektiven Geiste gilt der Satz: nur
das Wesenhafte und Wahre ist wirklich, nur das sittlich gültige
Recht / hat Wesen oder Macht — aber es gilt dieser Satz in dem-
selben Sinne, wie von der organischen Substanz gilt: Nur das Ge-
sunde ist; d e n n d a s K r a n k e o d e r d i e w e s e n s -
w i d r i g e M a c h t i s t i m B e g r i f f e z u s t e r b e n , und
das Tote ist als schon gestorben nicht mehr organisches Wesen, nicht
mehr seiend.
Das Vorstehende findet eine Ergänzung bei der Erörterung von Sein und
Sollen
2
.
1
Brihadäranyaka-Upanishad, I, 4, 14, in: Sechzig Upanishads des Veda,
aus dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen, 2. Aufl., Leipzig 1905, S. 396
(von mir gesperrt); vgl. oben S. 449 f.
2
Siehe unten unter Verfahrenlehre, S. 678 ff.