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Es ist nötig, diesen Satz gründlich zu erörtern. Er heißt, das sei
zuerst eindringlich betont, nicht, wie unser heutiges naturalistisches
Denken ihn am liebsten deutet: Das Ganze „verursache“, „be-
wirke“, „erzeuge“ die Teile als eine eigene Triebkraft, als eine Art
von geheimnisvollem Deus ex machina. Das wäre ja eine ursächliche
Betrachtung; aber gerade diese Betrachtungsweise hat in der Ge-
sellschaft (wo es Ursachen überhaupt nicht gibt, sondern nur Gültig-
keiten, Glied- / haftigkeiten oder auch noch Gründe [zum Bei-
spiel logischer Art] und Folgen [zum Beispiel ebensolcher logischer
Art]) gar keinen Platz. Wenn das Ganze die Teile ursächlich er-
zeugte, so wäre wieder das Ganze als ein stoffliches Etwas oder als
ein Kraftzentrum gefaßt und für sich (einzeln) da; ebenso die Teile
als (außer ihm) bestimmte Stücke, Einzelne gefaßt, auf die das
Ganze w i r k t e und die auf das Ganze zurück w i r k t e n . Durch
solche ursächliche Denkweise hat aber der Begriff „Ganzes“ oder
„Teil“ seinen eigentlichen Sinn verloren, es bleiben dann in Wahr-
heit nur Ursachenkomplexe übrig.
Jener Satz hat mit einer Ursachenbeziehung überhaupt nichts zu
tun und heißt lediglich: Das Ganze ist l o g i s c h früher als der
Teil. Wäre der Teil logisch früher, so könnte durch Zusammen-
schneien beliebiger Einzelner zufällig eine Ganzheit entstehen. Das
wäre aber ähnlich, wie wenn durch Ausschütten von Milliarden von
Buchstaben einmal zufällig das Nibelungenlied entstünde. Das Um-
gekehrte ist richtig: Damit die Buchstaben, welche das Nibelungen-
lied bilden, an ihrem Orte da sein oder entstehen können, muß das
Lied früher da sein — das Ganze! Das Lied eignet sich die Buch-
staben zu, ja, es hat sie als seine organischen Glieder schon in sich.
Das Ganze muß dem W e s e n n a c h (der Idee nach) da sein,
bevor ein Etv/as sein Glied, sein Teil werden kann; oder noch
strenger ausgedrückt: bevor es sich a u s g l i e d e r n , im Gliede
darstellen kann. Dies heißt es „logisch früher“.
Und auf die Gesellschaft angewandt bedeutet das: Niemals wird
ein Mensch dadurch zum Glied eines Gesellschaftsganzen, daß er
sich mit anderen Menschen, gleichsam mit Stücken gleicher Art, zu-
sammenstellt, zusammen-häuft, summiert; sondern nur dadurch
wird er Glied der Gesellschaft, daß die Gliedeigenschaften, die frü-
her in ihm nur schlummerten, zur Verwirklichung, Aktualisierung
kommen. Gleichwie der Buchstabe erst vom Nibelungenliede her