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wir, wie auf sie ganz buchstäblich das Wort: „Trachtet zuerst nach
dem Reiche Gottes, das andere wird euch mit zufallen“
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, zutrifft.
Zuerst: Der große Mystiker hat auch latenterweise, so zeigte
sich schon früher, magische Kräfte in sich und vermag in diesem
Sinn die Natur zu beherrschen. Allerdings wird er keinen anderen
als gelegentlichen Gebrauch davon machen (zum Unterschied vom
Magier, welcher sich damit auf eine tiefere Ebene begibt). Ein
Zweites ist, daß der Mystiker vom Äußeren des Lebens ungleich
unabhängiger ist als der Weltmensch. Seine leiblich-vitalen Bedürf-
nisse sind wesentlich einfacher, sein Standpunkt gegenüber Schick-
salsschlägen ist ungleich gefestigter. Ein Drittes ist seine Herrscher-
macht im Reich des Geistes und des Tuns. Der in Sammlung heran-
gezogene und erstarkte Geist vermag bei jeder Aufgabe, die er
ergreift, eine ungewöhnliche Kraft des Handelns an den Tag zu
legen, sei es in äußerer Arbeit, sei es in Menschenführung, sei es in
geistiger Tätigkeit sonstiger Art oder in der Wissenschaft und Kunst.
Schon Platon lehrte ja, daß nur der Weise (oder: der Mystiker) den
Staat wahrhaft zu lenken verstehe. Dasselbe lehrten die chinesischen
Mystiker seit ältesten Zeiten. Daher wird derselbe Mensch auch
selbst im Bereich äußerster Zwiespältigkeit des Lebens, im Krieg
seine Meisterschaft bewähren, wie unter anderen Platon an Sokrates
rühmt. Die Erscheinung des mystisch geschulten Kämpfers, bei den
Germanen Berserker geheißen, ist dafür ein generelles Beispiel.
Und in der Kunst bietet dafür jeder wahrhaft große Künstler /
ein Beispiel. Bei Wolfram von Eschenbach, Alighieri Dante, Michel-
angelo, Raffael, Grünewald, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich
Haendel, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Novalis tritt
die mystische Grundlage ihres Schaffens so klar zutage, daß sie
jeder erkennt. Auch bei Goethe, Schiller, Eichendorff, Kleist, Mörike
fehlt sie nicht, wie man sich denn überhaupt jeden großen Künstler
der gesamten Menschheitsgeschichte unbedingt als mystisch begabt
und bestimmt vorstellen muß.
Hierfür nur ein Zeugnis über Goethe, den sogenannte Kenner als „Weltkind“
zu bezeichnen lieben. Eine Äußerung Goethes über seinen Faust läßt uns einen
tiefen Blick in sein Verhältnis zur Mystik tun. Förster hatte die Vermutung aus-
gesprochen, die Rechtfertigung der Worte: „Ein guter Mensch in seinem dunklen
Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt“, werde die Lösung des Faust-
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Vgl. oben S. 140.