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ligion. Denn am Beginn der religiösen Laufbahn Mohammeds
stehen Gesichte und Gehöre. Helmut Ritter schildert sie in folgen-
dem kurzen Bericht: /
„Nach der „muslimischen“ Überlieferung gipfeln die religiösen Erlebnisse
Mohammeds, die sein öffentliches Auftreten. . . einleiten, in zwei gewaltigen
Visionen. Das einemal sieht er den Engel in Riesengröße am Horizonte sitzen
oder stehen, er fällt vor Schrecken zitternd auf die Erde nieder, flüchtet sich
dann entsetzt in den Schoß der mütterlichen Chadidscha und kann sich erst
beruhigen, nachdem sie den Bebenden in schützende Tücher eingehüllt hat. Nach
einem anderen Berichte hat er erst eine Zeit lang wie gelähmt da gestanden,
bis Chadidscha nach ihm schickte. Das anderemal fühlt er sich von dem Engel
gewürgt: „Rezitiere!“ „Ich rezitiere nicht.“ „Rezitiere!“ und so zum drittenmal,
bis er endlich in ekstatischer Zwangsrede die ersten Stücke der „Rezitation“
des „Qu’an“ zu stammeln beginnt“
1
. Helmut Ritter fügt hinzu, es sei unver-
kennbar, daß diese Gesichte „die beiden wesentlichsten Grundzüge von Mu-
hammeds religiöser Erfahrung treu widerspiegeln: das Gefühl des Überwältigt-
seins von einer Gottheit von gewaltiger Majestät, der gegenüber die einzig
gemäße Haltung des Menschen, des ,Knechtes“ erschauerndes Niederfallen und
willenlose Hingabe ist und zum andern die merkwürdige Erfahrung, das In-
strument Gottes zu sein, durch das er zu den Menschen redet“
2
. — Hiermit
sind bereits das Subjektive (der große Engel, der würgende Engel) und das
Übersubjektive (die Nötigung zu religiöser Aktion) angedeutet. Freilich ist hier
das Übersubjektive im mystischen, nicht eigentlich im magischen Bereich gelegen.
Um die Bedeutung ekstatischer Visionen auch für die Ausge-
staltung schon gegebener Religionen zu erkennen, brauchen wir
nicht auf das Heidentum zurückzugehen; wir sehen sie im hellsten
Licht der Geschichte noch im gegenwärtigen Christentum. Es ge-
nügt, hier auf das eine Beispiel von L o u r d e s hinzuweisen, wo
eine Schauung und Hörung stattfand, an die sich die Gründung
eines Kultes anschloß. Sie wird folgendermaßen geschildert
3
:
„Ein Hirtenmädchen namens Bernadette Soubirous ging am 11. Februar 1858
zu Massabielle bei Lourdes an den Pyrenäen mit der Schwester und einem
anderen Mädchen Holz sammeln. Sie erblickte dabei die Jungfrau Maria in strah-
lender Schönheit, während die anderen Mädchen nichts wahrnahmen. Bei
wiederholten Besuchen des Ortes erneuerte sich die Erscheinung, die sich zuletzt
als die Königin des Himmels zu erkennen gab.“ — Sie sandte Bernadette zu
dem Dechanten in Lourdes, um ihm zu sagen, daß auf dem Felsen eine Kirche
gebaut werden solle. Die Geistlichkeit beachtete die Kleine kaum und verlangte
ein Wunder, welches aber nicht geschah. Es geschah / aber etwas anderes ... die
1
Helmut Ritter: Muhammed, in: Meister der Politik, herausgegeben von
Erich Mareks und Karl Alexander Müller, Bd 3, Stuttgart 1923, S. 149.
2
Helmut Ritter: Muhammed. — Vgl. auch Christian Snouck-Hurgronje, in:
Lehrbuch der Religionsgeschichte, herausgegeben von Alfred Bertholet und
Eduard Lehmann, Bd 1, 4. Aufl., Tübingen 1925, S. 660 f.
3
Georg Friedrich Daumer: Das Wunder, Seine Bedeutung, Wahrheit und
Notwendigkeit, Regensburg 1874, S. 53—55.