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Dasselbe gilt für das Wissen: der Urmensch kennt die Welt aus
innerer Wesensanschauung der Dinge. Aus dem geschauten Wissen
entsteht die Kunst, die Ausdruck dieses Wissens ist. Ähnlich wie die
Kunst geht auch die Sprache aus diesem Wissen hervor: sie enthält
eine Fülle von innerer Erkenntnis und äußerer Anschauung, sie ist
ebenfalls gestaltend. Das Kunstwerk der Sprache ist nur dort mög-
lich, „wo der menschliche Geist aus dem Ü b e r g a n g vom My-
stisch-Intuitiven zum Weltlich-Diskursiven begriffen ist, wo er an der
Grenzscheide zweier Welten die Kräfte beider in sich trägt“ (Bd 16,
356).
Den Schritt vom Monotheismus zum Polytheismus oder wie Spann
sagt: von der „Uroffenbarung zum Polytheismus“ haben wir uns
nach der hier dargestellten Auffassung als einen Prozeß der Ent-
sakralisierung vorzustellen. Wir müssen also nicht an ein formelles
Ereignis denken, sondern an ein Absinken vom mystischen in einen
magischen Zustand. Die Rückverbundenheit im Höchsten weicht
einer Rückverbundenheit in niedrigen Zentren, es kommt zur „Auf-
spaltung des Einen Gottes in Teilgötter“. Die Verbindung mit den
natürlichen Gewalten löst die Gebundenheit in Gott auf, und es
tritt eine immer tiefere Verstrickung in die Welt ein.
Überall zeigt das Hinzutreten von magischen Elementen die Los-
lösung vom mystischen Urzustand und die Verflachung der Geistes-
haltung.
Es kann also nicht von einer Entwicklung (schon gar nicht von
Unten nach Oben), sondern nur von „Gründung und Entfaltung“
des realen Lebens der Ganzheiten die Rede sein. Es ist die Ent-
faltung von etwas im Wesen Angelegten. Natürlich spielt neben dem
Aufschwung der Entfaltung auch der Verfall eine Rolle, jedoch nicht
eine so entscheidende, daß den Menschen späterer Generationen die
höchsten Geisteszustände nicht mehr möglich wären.
Der Verfall des religiösen Sinnes resultiert aus dem „Hervortreten
des Reflektierten, Rationalen, schießlich des Sensuellen, Materiellen“
(Bd 16, 362). Nach Spann ist dies die letzte Stufe der Entsakralisie-
rung, wobei als Merkmale solcher Zeiten besonders eine „entgötterte,
materialistisch-mechanische Naturauffassung“ (Bd 16, 362) und eine
ebenfalls „mechanistische Geistesauffassung“ (Bd 16, 363) hinzu-
kommen. Damit verbunden ist nach Spann ein allgemeiner Kultur-