§16. Vom Werden und Wesen unseres Zeitgeistes
Der altgriechische Philosoph Pythagoras verglich, wie uns Dioge-
nes Laertius berichtet, das Leben mit einem Volksfeste, zu welchem
„einige kamen, um [in Kampfspielen] zu kämpfen, andere, um Han-
del zu treiben, und die Besten als Zuschauer“. Als solche Zuschauer
wollen auch wir im nachfolgenden den Zeitgeist, den politischen
Ideengehalt unseres Zeitalters, betrachten; allerdings nicht um „un-
parteiische“ Zuschauer zu sein, wie der angeblich wissenschaftliche
Standpunkt von heute will, sondern um auf Grund des Geschauten
wertend, richtend zu urteilen. Den Grundsatz, den sich die heutige
Volkswirtschaftslehre angewöhnt hat, „Werturteile“ aus der Wis-
senschaft auszuschalten, können wir nicht schlechthin teilen, ja er ist,
wenn streng durchgeführt, geradezu vernichtend. Er hat dazu ge-
führt, daß angeblich nur ein sehr kleiner Kreis „gesicherter“, das
heißt von allen Lagern anerkannter wissenschaftlicher Ergebnisse da
sei. Er hat so den Blick von der Innerlichkeit des Gegenstandes un-
serer Wissenschaft abgelenkt
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, um eine vermeintlich rein „induktive“
und „kausale“ Wirtschaft, eine überall nach „Exaktheit“ strebende,
eine vermeintlich „von Werturteilen unbeeinflußte“ Lehre zu erzeu-
gen. Wohin wir damit gekommen sind, zeigt unser heutiger Zustand.
Früher wurden große Umwälzungen im Grunde von den Wissen-
schaften geführt (französische Revolution, Renaissance). Heute ste-
hen unsere hohen Schulen, steht die Wissenschaft abseits und sieht
zu, was aus den geschichtlichen Bewegungen, in deren Mitte wir uns
befinden, werden soll. Gewiß, die Wissenschaft darf „Sein und Sol-
len“ nicht vermischen. Methodologische Reinlichkeit ist Vorausset-
zung jeder echten Forschung und Wissenschaftlichkeit. Aber sollte
eine Wissenschaft vom Leben, wie es die Gesellschafts- und Wirt-
schaftswissenschaft ist, tatsächlich möglich sein ohne Nachschaffen
der inneren Wirklichkeit des Lebens, das heißt unter vollständiger
Abscheidung vom Leben? Unsere „Wissenschaft“ darf nicht zur to-
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Siehe eingangs oben S. 11 f.
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