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sich der Bindung durch die Gemeinde (Kirche) unterwerfen, er

k a n n sich hingeben, sich aufopfern und in dieser Weise der Idee

genügen, aber er muß es nicht, tut er es, dann, t r o t z d e m er

Individualist ist, trotzdem er als selbstgenugsamer Geist ausschließ-

lich aus sich selbst schöpfen und die Freiheit wählen könnte! Wenn

der Individualist sich der Bindung, die eine beliebige bestimmte

Idee ver- / langt, unterwirft, muß er zuerst die freie Willkür seiner

auf sich selbst gestellten Geistigkeit überwunden und verneint ha-

ben. Er kann eine Bindung stets nur eingehen, trotz des Dranges,

sich selbst genug zu sein, nicht aber wegen dieses Anrufes seiner

eigenen prometheischen Selbstgenugsamkeit.

Aus der autarken Grundeinstellung des Einzelnen folgt, daß die

individualistische Idee einer bestimmten Gestalt, sowohl des geisti-

gen wie des wirtschaftlichen Lebens, zustrebt: der Bindungslosigkeit.

Zuerst sind die Bindungen des wirtschaftlichen Lebens vom Indivi-

dualismus aufgehoben worden. Daß jeder Einzelne nach Möglichkeit

tun könne, was er will, „laissez faire, laissez passer, le monde va de

lui même“, war seine Forderung. Sobald aber alle wirtschaftlich frei

und hemmungslos wurden, wandten sich alle Kräfte nach außen —

der Kapitalismus! Sein tiefster Grundzug ist, daß Geistiges nach

außen gelenkt, Innerlichkeit veräußerlicht wird. Daher gilt: A l l e

i n d i v i d u a l i s t i s c h e n

Z e i t a l t e r

d e r

W e l t g e -

s c h i c h t e s i n d k a p i t a l i s t i s c h e Z e i t a l t e r . Sie sind

es in dem Maße und in der Art als sie in ihrer Geistigkeit indivi-

dualistisch sind. Überall, wo individualistische Wellen durch die Ge-

schichte gehen, sei es in Babylon, Ägypten, Athen, Rom, sei es in der

Renaissance, im Humanismus („Frühkapitalismus“), treffen wir zu-

erst die Entfesselung der äußeren Kräfte, aus der dann jene gestei-

gerte Entwicklung der Gütererzeugung und jene Verwirtschaft-

lichung des gesamten Lebens folgt, die den Kapitalismus überall

kennzeichnet. Der Einzelne, auf sich allein zurückgeworfen, muß

innerlich verarmen, kann, um dieser Verarmung wenigstens teil-

weise zu entgehen, nur nach außen wirken; darum schöpferische Ent-

wicklung des ä u ß e r e n Lebens. Ein Zeitalter wie das unserige mit

seiner allgewaltigen technisch-wirtschaftlichen Energieentfaltung hat

die Welt noch nicht gesehen, aber nur deswegen, weil noch keines so

uneingeschränkt, so durchaus, so rasend individualistisch war. Eisen-

bahnen, Maschinen, Fernsprecher und Fernschreiber, Luftschiffe —