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Gang der Geschichte haben die Gesellschaftswissenschaften verloren.
Denn einen Mechanismus berechnet man, aber man führt ihn nicht,
er geht seinen naturnotwendigen Gang. Wir leiden unendlich unter
dem Hochmute der „Exaktheit“ und ihrer Unfruchtbarkeit. Die
Nachahmung des naturwissenschaftlichen Verfahrens in den Geistes-
wissenschaften wirkte geradezu vernichtend. — Damit in genauer
Verbindung steht noch eine andere Schwäche heutiger Wissenschaft,
ihr ungeschichtlicher Geist.
Als vermeintlich exakte Wissenschaften leben unsere heutigen
Gesellschaftswissenschaften vor allem in der Gegenwart. Das haben
sie von der Naturwissenschaft übernommen. Für den Physiker ist es
bedeutungslos, was man vor hundert Jahren über das Licht dachte,
denn die heutigen Messungen und Berechnungen sind genauer,
darum können sie jener vor hundert Jahren entraten. Was unsere
Zeit im naturwissenschaftlichen Denken tut, das Vergangene außer
acht zu lassen, das tut sie auch im politischen Denken. Allein: Was
des einen Leben, ist des anderen Tod. Der Ideengehalt eines Zeit-
alters ist keine kausal hervorgebrachte, mechanische Größe. Er ist
das, was eine Zeit gestaltet, was ihr Schicksal führt; er ist zu be-
trachten als die Brutstätte der Geschichte, ihr erster Beweger, ihre
wahre Triebkraft. Nun ist aber ein Geistiges nie von dem Gegen-
wärtigen allein gemacht, sondern stets ein Kind der Vergangenheit.
Deren Geistiges gilt es daher zu erkennen. Wir Heutigen / denken,
weil zu „induktiv“ und „exakt“, auch zu wenig geschichtlich. Wir
haben zwar das geschichtliche Denken zum eigenen Studium und
Forschungsgrundsatz erhoben („Geschichtliche Schule“ in der Rechts-
und Volkswirtschaftslehre!), aber nicht zu einer Anschauungsweise
des Lebens. Wir haben das geschichtliche Studium gleichsam künstlich
gemacht, aber es ist in unserem Denken nicht lebendig. Wir leben als
echte Emporkömmlinge in der reinen Gegenwart, betrachten sie als
etwas Fürsichseiendes, statt zu erkennen, wie die Vergangenheit in
ihr lebt und waltet. Eine sittlich-politische Idee entspringt nicht un-
vermittelt, gleichsam gewappnet, wie die Athene aus dem Haupte
des Zeus, sondern wird durch innnere Umbildung, Bejahung und
Verneinung dessen, was die Vergangenheit gesagt und gelebt hat,
wird in innerer Zwiesprache mit dem, was vorher gedacht wurde,
geboren. Das Geistige der Gegenwart für ein selbst Erzeugtes zu
halten, ist der tiefwurzelnde Irrtum des ungeschichtlichen Individua-