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lismus, der gesamten, politischen Einstellung von heute. Die selbst-
sichere Einstellung des naturwissenschaftlichen Denkens auf das po-
litische Denken zu übertragen, ist verhängnisvoll, isolierend und
auszehrend. Das Erste, was wir in politischen Dingen wieder lernen
müssen, ist, uns als Söhne der Väter zu erkennen.
Wir unterscheiden im politischen Ideengehalt unserer Zeit den
individualistischen, universalistischen und sozialistischen Ideenkreis.
Um in Wesen und Werden unseres Zeitgeistes einzudringen, be-
trachten wir zuerst jeden dieser Kreise.
I. Der individualistische Ideenkreis und sein Kulturinhalt
Jener Ideenkreis der Vergangenheit, der in unserer Gegenwart
weitaus am lebendigsten ist, ist der individualistische. Unsere Ver-
gangenheit ist durch und durch individualistisch. Mit der Renaissance
beginnt zuerst das, was man die Entdeckung des Individuums in der
Kunst nennt, was in Wahrheit aber nur die Losreißung von allen
mittelalterlich-scholastischen Bindungen ist (denn das Individuum
brauchte man im Mittelalter nicht erst zu entdecken, es war kräfti-
ger ausgebildet als später). Sie und der Humanismus und später die
Reformation leisten die Totengräberarbeit am Mittelalter; das indi-
vidualistische Naturrecht ist es dann, welches die aufbauenden Ge-
danken für eine neue, individualistische Ordnung des Staates und
der Gesellschaft liefert. Man kann zwei Hauptstufen in diesem gro-
ßen Siegesgange der individualistischen Idee unterscheiden: Zuerst
die Zerstörung des ständischen Geistes der körperschaftlichen Bin-
dungen des Mittelalters, wie sie in Zunft, Kirche, grundherrschaft-
lichen und lehensartigen Abhängigkeiten, Orden, Genossenschaften
und Brüderschaften aller Art gegeben waren; dann der gewaltige
politische Durchbruch der neuen individualistischen Ideen in der
französischen Revolution von 1789.
Die Frage, welcher der Grundgedanke der französischen Revolu-
tion war, jener Ideenwelt, die heute noch unser ganzes politisches
Leben bestimmt, haben wir schon beantwortet — es war die natur-
rechtliche Freiheitsidee. Die / geschichtliche Entwicklung des Natur-
rechtes als politischer Theorie brauchen wir hier nicht zu verfolgen,
sie ging von Grotius an zu Hobbes, Locke, Hume, Quesnay, Smith,
Montesquieu, Rousseau und deren Schulen. Uns gehen nur die Grund-
gedanken an, die uns bereits bekannt sind; der Begriff des absoluten