Table of Contents Table of Contents
Previous Page  2248 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 2248 / 9133 Next Page
Page Background

86

[61/62]

lismus, der gesamten, politischen Einstellung von heute. Die selbst-

sichere Einstellung des naturwissenschaftlichen Denkens auf das po-

litische Denken zu übertragen, ist verhängnisvoll, isolierend und

auszehrend. Das Erste, was wir in politischen Dingen wieder lernen

müssen, ist, uns als Söhne der Väter zu erkennen.

Wir unterscheiden im politischen Ideengehalt unserer Zeit den

individualistischen, universalistischen und sozialistischen Ideenkreis.

Um in Wesen und Werden unseres Zeitgeistes einzudringen, be-

trachten wir zuerst jeden dieser Kreise.

I. Der individualistische Ideenkreis und sein Kulturinhalt

Jener Ideenkreis der Vergangenheit, der in unserer Gegenwart

weitaus am lebendigsten ist, ist der individualistische. Unsere Ver-

gangenheit ist durch und durch individualistisch. Mit der Renaissance

beginnt zuerst das, was man die Entdeckung des Individuums in der

Kunst nennt, was in Wahrheit aber nur die Losreißung von allen

mittelalterlich-scholastischen Bindungen ist (denn das Individuum

brauchte man im Mittelalter nicht erst zu entdecken, es war kräfti-

ger ausgebildet als später). Sie und der Humanismus und später die

Reformation leisten die Totengräberarbeit am Mittelalter; das indi-

vidualistische Naturrecht ist es dann, welches die aufbauenden Ge-

danken für eine neue, individualistische Ordnung des Staates und

der Gesellschaft liefert. Man kann zwei Hauptstufen in diesem gro-

ßen Siegesgange der individualistischen Idee unterscheiden: Zuerst

die Zerstörung des ständischen Geistes der körperschaftlichen Bin-

dungen des Mittelalters, wie sie in Zunft, Kirche, grundherrschaft-

lichen und lehensartigen Abhängigkeiten, Orden, Genossenschaften

und Brüderschaften aller Art gegeben waren; dann der gewaltige

politische Durchbruch der neuen individualistischen Ideen in der

französischen Revolution von 1789.

Die Frage, welcher der Grundgedanke der französischen Revolu-

tion war, jener Ideenwelt, die heute noch unser ganzes politisches

Leben bestimmt, haben wir schon beantwortet — es war die natur-

rechtliche Freiheitsidee. Die / geschichtliche Entwicklung des Natur-

rechtes als politischer Theorie brauchen wir hier nicht zu verfolgen,

sie ging von Grotius an zu Hobbes, Locke, Hume, Quesnay, Smith,

Montesquieu, Rousseau und deren Schulen. Uns gehen nur die Grund-

gedanken an, die uns bereits bekannt sind; der Begriff des absoluten