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Einzelnen, des Urzustandes, des Urvertrages und der Freiheit, ge-
mildert und durchführbar gemacht durch politische Gleichheit, das
heißt durch Atomismus und mechanischen wie zentralistischen Bau
des Staates. Ferner: Der Einzelne, ein absoluter Wert, der Staat ein
Unwert, nur ein Nothaftes, Äußerliches, Utilitarisches.
Die Herrschaft dieser Freiheitsideen (die zugleich, wie wir er-
kannten, rationalistisch, antimystisch sind — „Aufklärung“
1
) in der
Gesamtbildung der damaligen Zeit war eine unbegrenzte, zum Un-
terschiede von unserer heutigen, in der sich ein hinreißender, durch-
schlagender Zug noch nicht zeigt. Jene geistige Welt bricht wie eine
ungeheure Sturzwelle durch das Tor der großen französischen Re-
volution und vollendet in den Nachstößen der späteren liberalen
Revolutionen von 1830 und 1848 ihren Einbruch.
Die politischen Parteiformen, welche die naturrechtlich-individua-
listische Idee angenommen hat, und die uns noch später beschäftigen
werden, sind: der L i b e r a l i s m u s , d a s M a n c h e s t e r t u m
(eine besondere Ausprägung des Liberalismus), endlich die D e m o -
k r a t i e (das ist die radikale, republikanische Form des Liberalis-
mus).
Bis hierher darf ich hoffen, auf allgemeine Zustimmung rechnen
zu können, da es sich nach allem Vorherigen im Grunde um meines
Erachtens unanfechtbare oder gar selbstverständliche Überlegungen
handelt. In der folgenden Überlegung aber fürchte ich, auf Wider-
stand zu stoßen. Es handelt sich für uns jetzt um den Kulturwert
des Individualismus. Doch darf ich wenigstens hoffen, auch von den
Gegnern meines Standpunktes verstanden zu werden.
Auch in dieser Frage müssen wir wieder auf den letzten Kern
alles Individualismus zurückgehen: daß der Einzelne als ein geistig
Selbstgenugsames zu fassen sei, der nur vor seinem eigenen Richter-
stuhle bestehen kann, der sich losreißt von aller geistigen Bindung.
Was heißt nun „sich Losreißen von der geistigen Bindung“? Das
möge ein Beispiel veranschaulichen. Die religiöse Idee z. B. verlangt
die Religionsgemeinde. Die Religionsgemeinde verlangt aber not-
wendig eine Bindung, z. B. als Kirche. Die Ideenbildung (universa-
listisch betrachtet) verlangt die Gezweiung und damit die Bindung;
das Sichselbstgenugsein aber verlangt die Losreißung von der Bin-
dung, die Losreißung von der Gemeinde. Der Individualist k a n n
1
Siehe oben S. 76 f., auch unten S. 92 f.