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keit zugestehen, womit das Metaphysische eingeführt wird, aber das

kann nur gegen den innersten Grundzug des Individualismus ge-

schehen.) So vollzieht sich mit dem Siegesgang des Individualismus

vom Mittelalter an (ähnlich bei den Sophisten in Griechenland)

schrittweise die Unterhöhlung der autoritativen, gesetzten, objekti-

ven, apriorischen oder in irgendeinem anderen Sinne überindivi-

duellen Sittenlehre und Lebensordnung. Schließlich kommt er zu

dem Ergebnis: das Sittliche entspringt der Erwägung des gesunden

Menschenverstandes — der „common sense“ der Engländer! Das

Sittliche ist utilitarisch, gut ist das, was nützlich ist, wenn auch über

den Umweg der Gesellschaft. Diese Sittenlehre des Utilitarismus ist

zugleich „relativistisch“, das heißt, es hängt durchaus von den Um-

ständen ab, es ist „relativ", was jeweils das Nützliche leibhaftig sei.

Diese Sittenlehre ist damit auch „empiristisch“, das heißt Sittliches ist

ein Ergebnis der Erfahrung („Egiteipo?" = kundig; Kunde oder Er-

fahrung ist wechselnd, relativ), der Erfahrung dessen, was als nütz-

lich wie gut zu betrachten sei.

Ferner: nicht nur das Sittliche, auch das Wissen als solches nimmt

diese Natur des bloß Relativen an. Die Wissenschaft ist nun eben-

falls empirisch, relativistisch und damit selbstverständlich auch nur

utilitarisch. Wahr ist, was die wechselnde, unausschöpfbar mannig-

fache Erfahrung jeweils als wahr erscheinen läßt. „Wahrheit“ ent-

springt der „Ökonomie“, der „Anpassung“ des Denkens an die Er-

fahrung und ihren Wechsel. Und weiter: Die äußere Erfahrung zeigt

der empiristischen Wissenschaft nur Ursächlichkeit, daher erleben

wir, daß auch die Geisteswissenschaft keinen anderen Ehrgeiz hat,

als Kausalgesetze zu entdecken. Die Wissenschaft ist damit auch in-

duktiv, denn die Induktion ist jenes Verfahren, durch das die Er-

fahrung immer mehr bereichert wird. Damit ist Wissenschaft,

ebenso wie auch die Ethik, etwas Veränderliches, Subjektives ge-

worden. Für alle Zeiten und Völker, auch für jeden Einzelnen, gilt

eine verschiedene Wahrheit, weil alle ja notwendig verschiedene Er-

fahrungsinhalte haben, weil verschiedene Anpassungsvorgänge ob-

walten — so das Sittliche, so das Wissen. Kann bei den anderen gei-

stigen Erscheinungen Halt gemacht werden? Schönheit, Kunst, Re-

ligion, Philosophie wird auf Erfahrung, Wissen, Nutzen zurück-

geführt. Schönheit z. B. soll schließlich die versteckteste Form des