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Nützlichen sein, weil durch den Anblick des Schönen die Nerven-
zentren angeregt werden, der Blutkreislauf sich belebt usw.
Zuletzt zum kosmopolitischen Grundzug des Individualismus, den
wir gleichfalls in einem anderen Zusammenhange schon berührten.
Wenn im eigenen Staate jeder Bürger das gleiche Atom, der gleiche
mechanische Bestandteil der politischen Maschinerie ist, wenn hier
gilt „Ein Volk, Eine Regierung“ — warum nicht in dem Verhältnis
von Mensch zu Mensch überhaupt? „Gleichheit“ heißt ja nicht nur
Gleichheit / im eigenen Staate, sondern „Gleichheit alles dessen, was
Menschenantlitz trägt“. Der Individualismus vollbringt hier zweier-
lei. Einerseits macht er alle gleich, atomisiert alles; andererseits schafft
er zwischen Mensch und Mensch die unübersteigliche Kluft. Die in-
nere Einsamkeit und Burgfreiheit der Person trennt mich von dem
Volksgenossen ebenso, wie von allen anderen Menschen. Das Einzig-
artige kann sich gegenseitig nicht verstehen; was ich bin, kann im
Innersten der andere gar nicht wissen; nur im Äußeren sind wir
gleich. Dies sind die tiefen Wurzeln der kosmopolitischen Richtung
des Individualismus. Warum die liberalen Parteien nirgends wahr-
haft völkische Parteien werden können, ist nun klar.
Aus all’ dem ergibt sich die wichtige Folgerung, daß der geistige
Inhalt aller individualistischen Zeitalter notwendig den Grundzug
auf das verstandesmäßige Wissen hat, daß er „rationalistisch“ ist. In
jeder individualistischen Kultur wird nach Möglichkeit rationalisiert.
Die Individuen verstehen einander nicht, innerlich ist jeder ohnehin
nur für sich, aber äußere Erfahrungen und Denkinhalte darüber
austauschen, sich gegenseitig aufklären, das können sie. Daher die
französische Revolution und was ihr vorausging, ein Zeitalter der
„Aufklärung“, des kahlen Rationalismus gewesen ist, und wir heute
noch ein solches (wenn auch nicht mehr mit gleicher Ausschließlich-
keit) sind. In der Sittlichkeit, in der Wissenschaft, überall verschwin-
det die metaphysische Grundlage in demselben Maße wie der Indi-
vidualismus vordringt. Überall bleibt nur die induktive, empiri-
stische Ursachenerklärung übrig, die äußere Beobachtung, das Fest-
stellen, Messen und Rechnen, das Handgreifliche. Das Höhere ist
ausgetrieben
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Die (neuerlich) von Max Weber vertretene Geschichtserklärung, daß der
Grundzug der Kulturentwicklung überhaupt die Rationalisierung des Lebens
sei, ist verfehlt, sie trifft nur auf individualistische Zeitalter zu.