Table of Contents Table of Contents
Previous Page  2254 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 2254 / 9133 Next Page
Page Background

92

[65/66]

Nützlichen sein, weil durch den Anblick des Schönen die Nerven-

zentren angeregt werden, der Blutkreislauf sich belebt usw.

Zuletzt zum kosmopolitischen Grundzug des Individualismus, den

wir gleichfalls in einem anderen Zusammenhange schon berührten.

Wenn im eigenen Staate jeder Bürger das gleiche Atom, der gleiche

mechanische Bestandteil der politischen Maschinerie ist, wenn hier

gilt „Ein Volk, Eine Regierung“ — warum nicht in dem Verhältnis

von Mensch zu Mensch überhaupt? „Gleichheit“ heißt ja nicht nur

Gleichheit / im eigenen Staate, sondern „Gleichheit alles dessen, was

Menschenantlitz trägt“. Der Individualismus vollbringt hier zweier-

lei. Einerseits macht er alle gleich, atomisiert alles; andererseits schafft

er zwischen Mensch und Mensch die unübersteigliche Kluft. Die in-

nere Einsamkeit und Burgfreiheit der Person trennt mich von dem

Volksgenossen ebenso, wie von allen anderen Menschen. Das Einzig-

artige kann sich gegenseitig nicht verstehen; was ich bin, kann im

Innersten der andere gar nicht wissen; nur im Äußeren sind wir

gleich. Dies sind die tiefen Wurzeln der kosmopolitischen Richtung

des Individualismus. Warum die liberalen Parteien nirgends wahr-

haft völkische Parteien werden können, ist nun klar.

Aus all’ dem ergibt sich die wichtige Folgerung, daß der geistige

Inhalt aller individualistischen Zeitalter notwendig den Grundzug

auf das verstandesmäßige Wissen hat, daß er „rationalistisch“ ist. In

jeder individualistischen Kultur wird nach Möglichkeit rationalisiert.

Die Individuen verstehen einander nicht, innerlich ist jeder ohnehin

nur für sich, aber äußere Erfahrungen und Denkinhalte darüber

austauschen, sich gegenseitig aufklären, das können sie. Daher die

französische Revolution und was ihr vorausging, ein Zeitalter der

„Aufklärung“, des kahlen Rationalismus gewesen ist, und wir heute

noch ein solches (wenn auch nicht mehr mit gleicher Ausschließlich-

keit) sind. In der Sittlichkeit, in der Wissenschaft, überall verschwin-

det die metaphysische Grundlage in demselben Maße wie der Indi-

vidualismus vordringt. Überall bleibt nur die induktive, empiri-

stische Ursachenerklärung übrig, die äußere Beobachtung, das Fest-

stellen, Messen und Rechnen, das Handgreifliche. Das Höhere ist

ausgetrieben

1

.

1

Die (neuerlich) von Max Weber vertretene Geschichtserklärung, daß der

Grundzug der Kulturentwicklung überhaupt die Rationalisierung des Lebens

sei, ist verfehlt, sie trifft nur auf individualistische Zeitalter zu.