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Dies ist S i m m e l s Argumentation; wir wollen sie ihrer inne-
ren Gliederung gemäß nach einzelnen Teilen prüfen.
Zunächst: Soziale Erscheinungen sind stets Gesamtzustände,
Komplexe aus Teilen, die selbst wieder Ganze sind, also hochkom-
plexer Natur; für die Komplexe als solche gibt es aber keine selb-
ständige Gesetzmäßigkeit; also ist jeder Begriff von ihnen ein blo-
ßer Hilfsbegriff, ihre Erforschung ist bloß morphologischen, provi-
sorischen Charakters, bloß aus praktisch-methodischen Gründen
zulässig.
Dies ist der erste Teil des S i m m e l schen Gedankenganges. Ent-
scheidend daran ist, daß es nur für die Elemente, nicht aber für den
Komplex Gesetze gebe. Dies ist die Grundthese, auf der die ganze
Auffassung und der ganze Aufbau des S i m m e l schen Gesell-
schaftsbegriffes ruht. Wir wollen sie vor der Hand ungeprüft hin-
nehmen. Zunächst sei uns die Hauptsache, die Folgerung als logisch
richtig anzuerkennen, daß Begriffe von Komplexen nur als Hilfs-
begriffe möglich seien, das heißt daß es nur praktisch-methodische
mung der die Gesellschaft als Einheit begründende Wechselwirkung psychischer
Teile, sind für unseren Zweck nicht mehr von grundsätzlicher Bedeutung. Sie
mögen aber der Vollständigkeit halber an dieser Stelle kurze Mitteilung finden.
Simmel stellt sich den Einwand, daß nach seinem Gesellschaftsbegriffe auch zwei
kämpfende Staaten als Gesellschaft gelten müßten. Er hält es methodologisch für
erlaubt, hier einfach eine Ausnahme (!), einen Fall, auf welchen die Definition
nicht paßt, zuzugeben. Das Los, nicht auf alle Fälle zu passen, sei das aller De-
finitionen! Zur Vermeidung der genannten Schwierigkeit könnte man vielleicht
sagen, Gesellschaft sei eine Wechselwirkung, bei der das Handeln für die eigenen
Zwecke zugleich die der anderen fördert, allein auch diese Abgrenzung ist nicht
befriedigend. Nach ihr würde ein Zusammensein, bei welchem der Nutzen ein-
seitig ist, auszuschließen sein, was nicht wohl zuzugeben ist. (Ober soziale Dif-
ferenzierung, a. a. O., S. 16) erklärt Simmel, daß auch der K a m p f a l s s o -
z i a l e Erscheinung zu betrachten, das heißt durchaus unter den Gesellschafts-
begriff fallend zu denken sei, — worin ihm wohl auch zugestimmt werden
muß. Im Hinblick auf Fälle endlich, wo nur ephemere Beziehungen statthaben,
scheine der Gesellschaftsbegriff gleichfalls zu versagen. Prinzipiell könne dies
zwar nicht zugegeben werden, denn selbst ephemere Beziehungen sind grund-
sätzlicher sozialer Natur; jedoch wird man besser die Grenzen des eigentlichen
sozialen Wesens da erblicken, „wo die Wechselwirkung . . . nicht nur in einem
subjektiven Zustande . . . besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt,
das eine gewisse Unabhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön-
lichkeiten besitzt“ (Ober soziale Differenzierung, a. a. O., S. 16). Hier läge also
eine exaktere Form von S p e n c e r s Bestimmung vor, daß die „Fortdauer“
der Wechselbeziehungen das Kriterium der Gesellschaft sei.