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und zugleich den Kulturstaat, der sich um alles kümmern, der überall
leiten und bilden soll.
So können wir als erstes Ergebnis feststellen: Unser Zeitgeist ent-
hält zwei große Vorstellungskreise, den Individualismus und den
Universalismus, die aber einander noch widerstreiten; und auch der
Marxismus ist eine Mischung beider. Somit ist der erste große
Grundzug des politischen Ideengehaltes unseres Zeitalters: der dop-
pelte, ineinander geschaltete Widerstreit von individualistischem
und universalistischem Denken.
Dieses Bild können wir gestaltlich und genetisch betrachten. Ge-
staltlich gesehen, ist es der eben dargelegte Widerstreit individualisti-
scher und universalistischer Gedankengruppen und Parteien: Hie
freie Wirtschaft, Freihandel, Naturrecht, Liberalismus, Demokratie,
Kosmopolitismus; hie Romantik, Sozialpolitik, organische Staats-
auffassung, völkischer Gedanke; und der Marxismus wiederholt den-
selben Widerspruch in sich: Hie Demokratie, Revolution, freie Asso-
ziation, Fehlen der Herrschaft von Menschen über Menschen; hie
Kollektivierung der Wirtschaft, hie geschichtlich unfreie, mechanisch
ablaufende Entwicklung. — Diese Widersprüche haben wir alle mit
der Muttermilch eingesogen; nur dadurch ist es erklärlich, daß sie
psychologisch überhaupt ertragen werden, denn der Anblick, den
sie logisch bieten, ist der von Zerrissenheit schlechthin.
Das genetische Bild ist tröstlicher. Die französische Revolution war
der Sieg des Individualismus. Unsere gegenwärtige Revolution ist
aber durch andere Geistesmächte bestimmt: In ihr siegt eine Misch-
form, der Marxismus! Der Marxismus nun hat im heutigen Um-
sturze allerdings / zuerst individualistische Elemente zum Siege ge-
führt. Seine erste Tat war die Vollendung der Demokratie; Pazifis-
mus, Kosmopolitismus, Antimilitarismus haben (äußerlich gesehen)
gesiegt. Damit ist aber zugleich seine Maske gefallen. Wie konnte
das, was vornehmlich unter universalistischer Flagge focht, als größte
und eiligste Tat die Demokratie verwirklichen? Hierfür ist die in-
nerste Ursache die Fehlerhaftigkeit, die Schwäche der universalisti-
schen Elemente im Marxismus, auf dessen tiefstem Grunde zuletzt,
wie sich erwies — der Anarchismus lauert
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Siehe oben S. 148 f. und 177 ff.