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auf den Kopf beiseite gestellt (um das Durchschnittseinkommen der nicht steuer-

pflichtigen Bevölkerung zu erreichen), ergibt sich ein Betrag von rund 2 Milliar-

den Mark. Von den restlichen 5 Milliarden müssen die Kosten der Kapitalsver-

mehrung, der Erziehung der Jugend für höhere Berufe und ähnliche gesellschaft-

liche Zwecke abgerechnet werden, die nach der preußischen Statistik, niedrigst

veranschlagt, rund 3 Milliarden ausmachen. Zur gleichen Verteilung unter die

ganze Bevölkerung von 31,85 Millionen bleibt also endgültig die Summe von

2 Milliarden Mark. Das ergibt auf den Kopf einen Zusatz von rund 60 Mark,

die zu den oben genannten 200 Mark hinzuzuschlagen wären! Ein Gesamtein-

kommen von 260 Mark auf den Kopf oder 1222 Mark für den Durchschnitts-

haushalt von 4,7 Personen ist aber geringer als das heutige bei den besser ge-

stellten oder den gelernten Arbeitern

1

. Eine derartige Einkommensverteilung

würde nun, so sagt Cassel, „die ganze Elite der jetzigen Arbeiter in Mitleiden-

schaft ziehen, gar nicht davon zu reden, daß überhaupt jede höhere Kultur ge-

fährdet wäre“.

2

§ 23. Zusammenfassende Betrachtung der inneren Richtung

und des politischen Ideengehaltes unseres Zeitalters

Wir haben die geistigen Grundbestandteile unseres Zeitalters in

seinen individualistischen, universalistischen und sozialistischen Ge-

stalten betrachtet; wir haben die Krisen dieses Zeitalters verfolgt,

als politische Krise oder Krise der Demokratie, als wirtschaftliche

Krise oder Krise des Kapitalismus, wir haben auch die Krise der

größten Reformbewegung selber gesehen und einsehen müssen, die

Krise des Marxismus; und wir haben die Zerrissenheit des ganzen

Zeitalters gesehen. Wir erkannten den tiefen philosophischen Um-

schwung als ein Merkmal unseres Zeitgeistes. Positivismus, Empiris-

mus, Relativismus — sie alle, diese unzertrennlichen Begleiter des

Individualismus, weichen schrittweise einem immer ernsteren, im-

mer mächtigeren metaphysischen Zuge, einem Drang zur Innerlich-

keit. Politisch gesehen, drückt sich dies aus in einem wahren Janus-

gesicht von Individualismus und Universalismus, das unser Zeitgeist

überall zeigt, den Widerstreit zweier feindlicher Welten. Und es ist,

der äußeren Erscheinung nach, ein recht unorganischer, fast chaoti-

scher Widerspruch. Unsere Zeit will sozialisieren und zugleich ruft

sie: „Freie Bahn dem Tüchtigen!“ (nämlich als einem Einzelnen). Sie

will die liberalste Demokratie und zugleich die weiteste Staatsein-

mischung, sie will den Freiheitsstaat, der sich in nichts einmischen,

1

Gilt für die Zeit um 1900.

2

Gustav Cassel, a. a. O., S. 149.