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das Wort „Gesellschaft“ nur als Sammelname für grundsätzlich eigentlich ganz verschiedene
Erscheinungen zugelassen!
K i s t i a k o w s k i geht in dem Versuche der Auseinanderlegung der die „menschliche
Gemeinschaft“ ausmachenden Erscheinungsgesamtheit in selbständigen Reihen von der
Annahme einer p r i n z i p i e l l e n K o m p l i z i e r t h e i t dieser Vorgefundenen
Erscheinungsgesamtheit aus. Es sind viele soziale Gesetze gleichzeitig in der Gemeinschaft
wirksam. Zum Beispiel kann die Bildung der Stände nicht durch eine einzige Kausalreihe,
etwa geistige Überlegenheit der Emporkommenden erklärt werden
1
. Daraus folgert er —noch
gestützt auf die Natur des logischen Denkprozesses, der stets auf die Isolierung heterogener
Elemente gehe
1 1 2
— daß der „Komplex heterogener Erscheinungen, welcher die konkrete
Vorstellung der Gesellschaft im weitesten Sinne ausmacht“, in m e h r e r e i n s i c h
h o m o g e n e , e i n a n d e r g e g e n ü b e r a b e r p r i n z i p i e l l h e t e r o g e n e
R e i h e n auseinanderfallen müsse
3
. Im besonderen findet er, daß sie in zwei solche logisch
homogene Reihen zerfällt: S t a a t u n d G e s e l l s c h a f t im engeren Sinne
4
. Der Staat
ist ein hinsichtlich seiner rechtlichen, normativen Natur, seiner Aufgabe usw. zu
Bestimmendes
5
. Sieht man nun von der staatlichen, äußerlich organisatorischen Bestimmtheit
der sozialen Gemeinschaft ab, so erübrigt nur noch die Gesellschaft im eigentlichen oder
engeren Sinne, das ist „ e i n e G e s a m t h e i t d e r M e n s c h e n o h n e
R ü c k s i c h t a u f R e g e l n u n d N o r m e n , d i e j e d o c h d u r c h e i n e n
s o z i a l - p s y c h i s c h e n P r o z e ß z u e i n e r E i n h e i t v e r b u n d e n
s i n d “
6
. K i s t i a k o w s k i gewinnt diese entscheidende Folgerung, daß die Gesellschaft
im weiteren Sinne in die beiden homogenen Reihen von Staat und Gesellschaft im engeren
Sinne zerfällt, indem er davon ausgeht, daß der Zweck nicht nur der Inbegriff des Rechtes,
sondern überhaupt des gesellschaftlichen Lebens im juristischen Sinne sei (Ihering). Von da
aus wird folgendermaßen geschlossen: „ W e n n a b e r das äußerlich organisierte
Zusammenleben der Menschen im Staate durch die verschiedenen Modifikationen der
zweckmäßigen Tätigkeit erschöpft wird, so bleiben hinter den abgelösten Zwecken und
Bestrebungen, die in den äußeren Regeln formuliert werden, noch die Menschen selbst mit
ihrem psychischen Leben und ihrer Wirkung aufeinander.“
7
Es ist klar, daß zwischen diesem
„wenn aber“ und „so“ nichts diesen Schluß Rechtfertigendes liegt. Wenn nämlich auch „das
äußerlich organisierte Zusammenleben der Menschen im Staate durch die verschiedenen
Modifikationen der Zwecktätigkeit erschöpft wird“, so folgt daraus sicherlich nicht, daß Staat
und Gesellschaft einander als heterogene Reihen gegenüberzustellen sind, d e n n m i t
d e r „ A b -
1
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, Eine methodologische Studie,
Berlin 1899, S. 44.
2
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 61 ff.
3
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 54 und öfter.
4
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 56 ff.,
besonders S. 70 f.
5
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 60, 67 f. und öfter.
6
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 72.
7
Theodor Kistiakowski: Gesellschaft und Einzelwesen, a. a. O., S. 70 f. (im Original
nicht gesperrt).