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erlangen. Ebenso bei K i s t i a k o w s k i , an dessen Versuch der

Ableitung eines materialen Gesellschaftsbegriffes unser Urteil

anmerkungsweise noch näher belegt und illustriert werden mag.

K i s t i a k o w s k i bietet ein Stück Durchführung in der Richtung eines materialen

Gesellschaftsbegriffes hin, indem er eine Verhältnisbestimmung des durch den S i m m e l

schen Gesellschaftsbegriff (in einem gewissen engeren Sinne) unmittelbar bezeichneten

Teiles der Erscheinungen der sozialen Gemeinschaft zur Gesamtheit dieser Erscheinungen

unternimmt. Für dieses Unternehmen kann, da es im übrigen selbständig ist, allerdings nicht

S i m m e l selbst, wohl aber der zugrunde liegende Gesellschaftsbegriff verantwortlich

gemacht werden. Nämlich insbesondere dafür, daß der Sinn der Bestimmung „psychische

Wechselbeziehung sozialer Einheiten“ wegen seiner Unzulänglichkeit und Allgemeinheit

auch so gefaßt werden kann, daß damit bloß ein anderen Teilsystemen des Gesamtsystems

gesellschaftlicher Erscheinungen gleichwertiges Teilsystem bezeichnet erscheint. Ist dies der

Fall, so erscheint diese Begriffsbestimmung nicht mehr als Bezeichnung der Erscheinungen

menschlicher Gemeinschaft überhaupt, sondern nur eines Teilgebietes derselben. Sie ist dann

ihrem eigenen Anspruche nach kein allumfassender G e s e l l s c h a f t s begriff. Vielmehr

wird dann (bei Kistiakowski) die Möglichkeit eines solchen überhaupt abgelehnt, und

der abgelehnten Naturgesetze des Sozialen die Gesetze des gesellschaftlichen Syllogismus

zu setzen. Da erklärt er z. B. den R u h m für die oberste Kategorie der sozialen Logik —

gleich dem Bewußtsein in der individuellen Logik —, weshalb ohne ihn nicht einmal

Nachahmung möglich wäre (wie allerdings auch umgekehrt)!

Im übrigen liegt es auf der Hand, daß die Nachahmung (die er übrigens psychologisch nur

sehr mangelhaft, nämlich als hypnotischen Vorgang [Somnambulismus] bestimmt hat), nicht

das „Interpsychische" — das ist nach ihm der Gegenstand der Soziologie — erschöpfen kann.

Sie kann nicht die ausschließliche Grundlage und Grundform der Wechselbeziehungen der

Individuen abgeben, weil aus ihr unmöglich alle anderen gesellschaftlichen „psychischen

Funktionen“ abgeleitet werden können. Zum Beispiel schon nicht die

W e r tungserscheinung. Von T a r d e s Schriften seien erwähnt: Les lois de l´imi- tation, 3.

Aufl., Paris 1900; La logique sociale, 2. Aufl., Paris 1898; Les lois sociales, 2. Aufl., Paris 1898;

hinsichtlich seines philosophischen Standpunktes: Les monades et la Science sociale, in:

Revue internationale de Sociologie, Paris 1893. — Von Schriften ü b e r T a r d e seien hier

angeführt: F e r d i n a n d T ö n n i e s : Besprechung von „Les lois de l´imitation“, in:

Philosophische Mo natshefte, Bd 29, Berlin 1893, S. 291—309; E v e l i n e

W r ó b l e w s k a : Die gegenwärtige soziologische Bewegung in Frankreich mit besonderer

Rücksicht auf Gabriel Tarde, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, herausgegeben von

Ludwig Stein, Bd 9, Berlin 1896, S. 497ff.; Cél e s t i n B o u g l e : Les Sciences sociales en

Allemagne, Paris 1896, S. 146 ff.; A l f r e d V i e r k a n d t : Gabriel Tarde und die

Bestrebungen der Soziologie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Jg 2, Berlin 1899, S. 560

ff. — Ein kurzer Versuch einer Gesamtdarstellung der Lehre von Tarde neuestens von

D e m e t r i u s G u s t i : Gabriel Tarde, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,

Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 30, Leipzig 1906, woselbst die

ausländische Literatur ü b e r Tarde.