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[106/107]

Nur wenn man das festhält, versteht man auch die letzten Hin-

tergründe der P l a t o n i s c h e n S t a a t s - u n d E r z i e -

h u n g s l e h r e . Bekanntlich sieht diese drei Stände vor, die Weisen,

welche herrschen, die Wächter und die Wirtschafter. Die „Weisen“

nun sind diejenigen Auserwählten, welche im Erziehungsgange bis

zum Ende, nämlich bis zur „Ideenschau“ vordrangen. Und diese

ist nichts anderes als die mystische Versenkung, wie ich das an

anderer Stelle nachgewiesen habe. (Das Höhlengleichnis und viele

andere Stellen beweisen es.)

1

Die altchinesische und die altindische Erziehung ist in gleichem

Sinne zu verstehen, wie aus Laotse, der Bhagavatgita, den Upani-

schaden und vielen anderen Quellen hervorgeht. Diese Erziehung

entspricht auch dem Bau des altchinesischen und altindischen Staa-

tes, dessen Leben mittelbar von Weisen und Mystikern gelenkt wird.

Daß noch heute in Tibet dieses Erziehungs- und Führersystem

herrscht, ist aus dem kürzlich erschienenen Buche von David-Neel

2

zu ersehen. Daß es auch bei den alten Germanen herrschte, steht mir

persönlich fest.

Es ist bemerkenswert, daß auch F i c h t e s Erziehung zum „Ge-

lehrten“ auf „Ideenschau“ und auf denselben metaphysischen, ver-

senksamen Charakter abzielt, wie Platons Erziehung zum Weisen. /

Den richtigen Ausgangspunkt zur Beurteilung der Bedeutung

der Erziehung im gegenwärtigen Augenblick gewinnen wir, wenn

wir uns die heutige politische Lage in Deutschland vor Augen hal-

ten. Eine große, geschichtliche Umwälzung ist soeben vollzogen, der

wesenswidrige, liberal-demokratische Staat ist beseitigt! Dieser

äußeren Tat muß aber noch die innere Umwandlung folgen. Solange

das nicht erreicht ist, ist unsere Lage noch gefahrvoll. Denn jeder

Bruch in der Geschichte, wie notwendig er auch gewesen sei, ist

zuletzt ein Sprung ins Dunkle. Nur durch die richtige E r z i e -

h u n g der vorhandenen wie der neu hinzukommenden Führer des

staatstragenden Standes ist die Gefahr der Verirrung abzuwenden,

nur durch sie ist den vorwärtsdrängenden Kräften mit Sicherheit

eine aufbauende Natur zu verleihen.

1

Vgl. mein Buch: Philosophenspiegel, 1. Aufl., Leipzig 1933, S. 196 ff. [2. Aufl.,

Wien 1950, S. 194 ff.].

2

Alexandra David-Neel: Heilige und Hexer in Tibet, aus dem Französischen

von Ada Ditzen, 2. Aufl., Leipzig 1932.