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B.
Die Erziehung nach individualistischer Auffassung
Hierüber nur ein Wort der Kennzeichnung.
Der Grundbegriff des Individualismus ist bekanntlich die geistige
Selbstgenügsamkeit oder Autarkie. Da ihr zufolge das Innenleben
des einzelnen Menschen nur ihm allein angehören kann, kann auch
die Erziehung nur äußerliche Wechselbeziehungen der Menschen be-
deuten, sie kann also nur äußere Vermittlungen von Kenntnissen
sein, nur Unterricht. Daher sich denn auch Erziehungslehre und Er-
ziehungskunst im Laufe der individualistischen Entwicklung, seit der
Aufklärung, mehr und mehr in U n t e r r i c h t s t e c h n i k ver-
wandeln. Der Lehrer erscheint da gleichsam nur als eine Sprech-
walze, welche dem Schüler nützliche Wissensinhalte vermittelt. Er
gibt äußere Hilfe zur Selbsterziehung, die aber der Einzelne allein
vollbringen muß, um sich zur Persönlichkeit zu bilden! — Ferner
kann der Individualismus folgerichtig kein F ü h r e r t u m anerken-
nen. Die Regierung geht ihm vom Volke aus, also ist jedermann
Führer (die Regierenden sind nur „Beauftragte“), daher kann auch
niemand zum Führer erzogen werden. — Demgemäß muß auch die
Entscheidung über den Inhalt, über das Was der Bildung hier zu-
letzt dem Einzelnen überlassen bleiben. Folgerichtig ging denn auch
die individualistische Entwicklung dahin, möglichst vielerlei zu bie-
ten, um jedem zu überlassen, was er damit anfangen wolle. Das
führt schließlich zum Siege der „Realien“, zum Amerikanismus.
Daher ist die individualistische Erziehung wesentlich gemeinschafts-
los, das Führertum ablehnend, subjektivistisch, relativistisch, eklek-
tisch (überdies a-metaphysisch) — was alles zur bloßen Unterrichts-
technik hindrängt und die Frage des Inhalts der Erziehung, das
Erziehungsideal, möglichst in Schwebe läßt.
Gegen den Begriff der Unterrichtstechnik setzen wir vom ganz-
heitlichen Standpunkt aus, das sei gleich hier vorweggenommen, den
Begriff des B i l d u n g s - o d e r E r z i e h u n g s i d e a l e s . Die
Frage ist da: Zu was erziehe ich den Menschen? — das ist nun
die Hauptfrage der Erziehung! Allerdings widerspricht sie der indi-
vidualistischen Einstellung, welche, indem sie die geistige / Entschei-
dung grundsätzlich dem Einzelnen überlassen muß, eine objektive,
soziale Seite der Erziehung im geistigen Sinne — die das Erziehungs-