[111/112]
161
vidualistische Standpunkt will, ist rein unmöglich; es widerstreitet
dem Wesen echten Schaffens, das nicht absolut ist, sondern unbedingt
an etwas anknüpfen muß, daher stets „Schaffen aus Geschaffen-
werden“ ist
1
. Kunst ohne Vorbilder ist kindliches Beginnen, Reli-
gion ohne Jüngerschaft ist unmöglich, Wissenschaft ohne Schüler-
schaft eine Selbsttäuschung. Unbekümmert um Kenntnisse, um Füh-
rung und Erweckung, rein „aus sich heraus“, also ohne Vorbilder,
schaffen zu wollen, ist ein urärmlicher Standpunkt. Leider ist er
heute geradezu der Zug der Zeit. (Wenn es nicht wahr ist, ist es gut
erfunden, daß der Baukünstler Otto Wagner / seinen Schülern ge-
sagt habe, „den Stephansturm solle man mit der Hacke zusammen-
hauen, sie mögen sich von dem Überlieferten lossagen, in sich gehen,
aus sich selbst heraus entwerfen.“)
Solche Vorbildlosigkeit kann unmöglich anderes ergeben als
Verfall, sogar bei großer Begabung. Darum heißt das Gebot der
Lebenskunst überall: Vorbilder suchen. Der Anfang zu „eigenem
Schaffen“ kann nur an Hand von Vorbildern entwickelt werden.
„Original fahr hin in deiner Pracht“ — dieses Wort im „Faust“
spricht ein Wesensgesetz alles Schaffens aus. Es folgt nicht bloß aus
der Natur des Schaffens, sondern auch aus der Natur der Gezwei-
ung, die nur objektive, nicht absolut subjektive Inhalte zu ent-
wickeln erlaubt.
Davon überzeugt auch ein Blick auf die Wirklichkeit. Wie in
der Religion ohne Stifter und Religionsführer nichts geschehen
kann, so in Wissenschaft und Kunst nichts ohne Anknüpfung an
bisherige Forschungen, Kunstwerke, Stile, so auch nichts ohne die
großen Sittenlehrer, die großen Herrscher, Staatsmänner, Heer-
führer, Wirtschaftsführer, Erfinder — sie alle sind überall unent-
behrlich.
Die Vorbilder erschließt uns aber die G e s c h i c h t e . Bismarck
z. B. hatte gerade keine Leidenschaft für die Wissenschaft. Er haßte
die Professoren und Geheimräte, die ihn im Stiche ließen, aber die
Geschichte, die ihm überall Staatsmänner am Werke zeigte, war ihm
zeitlebens Lehrmeisterin. Die Vorbilder lernt man aus ihrer Wirk-
samkeit und ihrem Leben kennen.
1
Siehe mein Buch: Der Schöpfungsgang des Geistes, Jena 1928, S. 45 ff. (= Die
Herdflamme, Ergänzungsband 3) [2. Aufl., Graz 1969, S. 47 ff.]; Geschichts-
philosophie, Jena 1932, S. 392 und öfters.
Il Spann,7