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Stile dieser Denkweise, daß die Geschichte nun einen „naturgesetz-
lichen“ Ablauf nimmt, weil auch die Wirtschaft selbst ausschließlich
nach blindursächlichen Naturgesetzen (Konzentration, Mehrwert-
bildung usw.) bewegt wird.
Die heutige sogenannte bürgerliche Volkswirtschaftslehre und Ge-
sellschaftslehre wird von den Grundgedanken dieser Auffassung so
gänzlich beherrscht, daß sie sich nur dem Grade nach von der mar-
xistischen unterscheidet, indem sie entweder ganz nackt den wirt-
schaftlichen Klassenkampf als das Erste (Primäre) des Gesellschafts-
ganges und Geschichtsverlaufes betrachtet, oder, indem sie eine nur
vermittelte und eingeschränkte Bedeutung dieses Kampfes der wirt-
schaftlichen Klassen gelten läßt. Die Klasse als wirtschaftlich ge-
artete, als kämpfende, als durch ihren Kampf unmittelbar oder ver-
mittelt die Gesellschaft primär bestimmende, nehmen fast alle Heu-
tigen an. Ein unerhörter Irrweg, den unsere gesamte gesellschaftliche
Wissenschaft genommen hat! Der Grund ist nicht eigentlich die ge-
radewegs marxistische, sondern die grundsätzlich i n d i v i d u a l i -
s t i s c h e Einstellung unserer gesamten Sozial- und Geschichts-
wissenschaft, welche früher oder später auf marxistische Formeln
führen muß.
Fassen wir die angeführten wesentlichen Grundbestimmungen des
Klassenbegriffes nach individualistischer Einstellung zusammen, so
ergibt sich: (1) Die „Klasse“ ist eine Summe, eine Anzahl von Ein-
zelnen gleicher Art; (2) diese gleiche Art findet zuletzt ihr Kriterium
im wirtschaftlichen Zustande, sie besteht zuletzt primär in der wirt-
schaftlichen Gleichartigkeit; „Klasse“ ist primär eine wirtschaftliche
Summierung, die nichtwirtschaftlichen Klassen sind abgeleitete (das
Wirtschaftliche als erster Gruppierungsgrund liegt rein ausgeprägt
nur im Marxismus vor, aber jeder Individualismus drängt dazu);
(3) die Klasse erscheint und erzeugt sich grundsätzlich in Klassen-
gegensätzen, das heißt zuletzt im Klassen k a m p f, sie erscheint
geschichtlich mit Notwendigkeit in der Stellung einer unterdrückten
oder einer unterdrückenden Klasse; (4) der Begriff der Gesellschaft
als Summierung (geistig) selbständiger Einzelner erlaubt es, daß die
Gesellschaft trotz dauernder Unterdrückung und Ausbeutung vieler
Einzelner (der Klasse) noch bestehen kann. Die herrschenden Klassen
g e d e i h e n dann auf Kosten der beherrschten; (5) das Ideal der
Gesellschaft — die wesensgemäße, reine Konstruktion derselben, ihr