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In rausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn’ ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärtige, gleich erkenn’ ich dich.
An der Zypresse reinstem, jungem Streben,
Allschöngewachsne, gleich erkenn’ ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn’ ich dich.
An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,
Allbuntbesternte, schön erkenn’ ich dich;
Und greift umher ein tausendarm’ger Eppich,
O Allumklammernde, da kenn’ ich dich.
Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß’ ich dich,
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann atm’ ich dich.
Die Überlegenheit des menschlichen Geistes über jenes Immate-
rielle der Natur, das sich verräumlicht, nicht aber d e n k t , gleich
dem Menschen, sprach kein Geringerer unter den Naturbegeisterten
als Eichendorff selbst aus:
Ja, Menschenstimme hell aus voller Brust!
Du bist doch die gewaltigste und triffst
Den rechten Grundton, der nur verworren anklingt
In all’ den tausend Stimmen der Natur.
Wie viele solcher Beispiele ließen sich nicht anführen! In der
Malerei erinnern wir nur an Altdorfers, Grünewalds, Philipp Otto
Runges und Schwinds Landschaften, welche als G a n z e s Leben
atmen; in der Musik an Beethovens „Pastorale“ und an das „Wald-
weben-Motiv“ Richard Wagners im „Siegfried“, welches unmittel-
bar jedes Herz ergreift, und in dieser Unmittelbarkeit die Bürgschaft
der Wahrheit mit sich führt.
VI. Rückblick
Die soeben entwickelten Gedankengänge enthalten manches, was
den Meinungen, ja der gesamten Bildungsrichtung unserer Zeit
fremd ist. Diese Fremdheit zu mildern, möge zuletzt noch ein kur-
zer Rückblick, welcher unsere Gedanken in einem anderen Lichte
zeigen soll, dienen.
1. Die neuzeitliche Physik muß notgedrungen ein so sehr verein-
fachtes Verfahren anwenden, daß ihr nur mengenhafte und damit
sinnfreie, das ist im weiteren Sinne mechanistische Zusammenhänge