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verliehe, brächte kein Ganzes zustande, sondern zum Schluß nur

einen Leichnam.

Daraus ergibt sich der Satz: es ist die Weise der lebendigmachen-

den Ebenbildlichkeit jeder Stufe, jedem Gliede Ausgliederungskraft

oder Eigenleben zu verleihen. Sie setzt die Ausgliederungsmacht des

Ganzen auch im Gliede als Herrscher ein. In diesem Satz öffnet sich

ein tiefer Blick in jenes l e b e n d i g e Treiben der Welt, welches

die ursächliche Auffassung mittels der „ L a p l a c i s c h e n W e l t -

f o r m e l “ vergebens aus der Welt hinausrechnen will

1

. — Hier-

für einige Beispiele:

Im Organismus hat jedes Organ (Stufe) seine nur ihm wesentliche Eigenle-

bendigkeit, zum Beispiel das Herz, die Lunge (was sich unter anderem an ihren

a r t e i g e n e n K r a n k h e i t e n zeigt); die Nervenzentren als „Regulatoren“

verschiedenster anderer organischer Vorgänge; der Magen ein anderes Leben als

der Darm; schließlich jede Zelle wieder innerhalb des Organs — so sehr, daß

sogar die Verirrung der „Zellular-Physiologie“ und „Zellular-Therapie“ möglich

war, die aus der Zusammenstellung der selbständig gedachten Zellen den Körper

entstehen lassen wollte. — Nicht minder ist es bei den geistigen Ganzheiten: die

Vorstellungen, Gestalten, die Triebe führen in der menschlichen Seele ihr „Eigen-

leben“. — Der General hat gegenüber dem Feldherrn, der Oberst gegenüber den

Generalen, schließlich der Plänkler gegenüber dem Zugführer seine Selbständig-

keit; — der Geringste gegenüber dem König, der Parlamentarier gegenüber der

Regierung; der Bürger gegenüber diesen allen seine (ihm zukommende) Selb-

ständigkeit; der untere Richter gegenüber dem oberen; der Priester gegenüber

dem Bischof, die Gläubigen gegenüber der Kirche; der Lehrer gegenüber der

Schulbehörde, der Schüler gegenüber dem Lehrer.

Die Kategorie des Eigenlebens ist es, welche jedem, auch dem

geringsten Gliede seine Würde verleiht. Sie läßt einsichtig verste-

hen, warum überall, wo Despotismus und Vielregiererei eingerissen,

sei es im einseitig entwickelten Organismus, sei es in Monarchie

oder Demokratie, in Schule oder Haus, in Kirche oder Heer, das

Eigenleben der Glieder geschmälert, ja getötet und daher zuletzt

auch das Ganze bald zum Leichnam wird. / Denn „das Ganze wird

in den Gliedern geboren“. Wenn aber die Glieder kein Eigenleben

haben, kann auch das Ganze in ihnen nicht leben.

Das Eigenleben ist aber auch die S e l b s t b e z e u g u n g der

Glieder, jenes Schöpferische, wodurch vor allem die menschliche

Persönlichkeit zur Entfaltung ihrer selbst kommt (allerdings nur in

Gezweiung

2

).

1

Siehe oben S. 45.

2

Vgl. unten § 27, S. 251

ff