138
[146/147]
Person zu suchen, das kann nur dem einfallen, der in das Wesen der
Ganzheit und des Seins keine lebendige Einsicht hat.
Im besonderen ist auch festzustellen, daß das Unvollkommene und
Böse nicht ausschließlich „Beraubung“ (
σνέρι σις)
ist, wie die An-
tike es bestimmte, sondern ein im Vergehen Begriffenes, weil un-
gliedhaft Gewordenes.
Unvollkommen ist sowohl ein Mehr wie ein Weniger von Glied-
sein im Rahmen des Ganzen. Das Mehr im Leben des Gliedes be-
deutet gegenüber dem Ganzen Wucherung, Scheinblüte, Hypertro-
phie, sich zu Größerem Aufwerfen, als dem Gliedhaften seines
Wesens entspricht; Empörung und Aufstand, wie das Genie der
deutschen Sprache so treffend für / „Rebellion“ sagt. Im Organis-
mus zum Beispiel kann das Herz sich nicht übermäßig ausgliedern.
Unter solchem Wuchern leiden sofort die andern Organe, der ganze
Körper wird „krank“: und so ist das Mehr des Gliedes nur ein
augenblickliches Scheinwuchern, weil es die Grundlage seines eige-
nen Lebens, die Ganzheit, angreift und mit dem übrigen Organis-
mus bald auch sich selbst zugrunde richtet. Die Bürger, die ihre
Stellung überschreiten, sind ebensolche Wucherer und Empörer;
desgleichen der König oder der Beamte, der seine Gewalt über-
schreitet und mißbraucht. Sie alle greifen ihre eigene Lebensgrund-
lage, das Ganze des Staates an, auf dem sie beruhen. Genau so ist es
in jeder Ganzheit, sei es, daß der Handel oder die Börse oder der
„Monopolist“ in der Volkswirtschaft sich mehr breit macht und aus-
gliedert, als ihm wesensgemäß zukommt; sei es, daß im Recht und
in der Rechtspflege der Formalismus oder einzelne Rechtsgedanken
im besonderen, zum Beispiel die Rechtsidee des freien Vertrages
oder die Rechtsidee der Obrigkeit, überwuchern; sei es, daß in der
Armee die Willkür der Vorgesetzten, sei es, daß in der Kirche die
Stellung des Unteren oder des Oberen, die Stellung des Subjektiven
oder des Dogmas überwuchern. Das Überwuchernde ist zuletzt nur
Schein-Wirkliches, Schein-Autarkes, denn es erschüttert die Grund-
festen, auf denen es selber ruht. Jede solche Rebellion ist darum
Sterbengehen, sowohl im Einzelnen wie im Ganzen. Wenn die Men-
schen ihre eigenen Taten betrachten, wie können sie sich dann wun-
dern, daß die Geschichte von Leiden und Greueln erfüllt ist? In
der Geschichte erfüllt sich nur das Urgesetz des Seins, daß alles,
was aus seinen Schranken tritt, aufhört zu sein. Sowie aber die Un-