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gliedhaftigkeit zumeist keine absolute, sondern nur eine gradhafte
und langsam werdende ist, ist auch die Vernichtung keine absolute
und plötzliche, sondern eine stufenweise, ein Vorgang, der Zeit
braucht. D i e s i s t d e r S c h l ü s s e l d a f ü r , d a ß B ö s e s
a l s M a c h t w i r k t u n d d o c h / n i c h t i s t . Es ist im
Sterben, aber sterbend ist es noch. Darum ist wohl das Böse in der
Weltgeschichte unheimlich wirksam, aber die Welt reinigt sich im-
mer wieder von selbst.
Unvollkommenheit ist nach dem Überwuchern das Zurückblei-
ben, Verkümmern der Ausgliederungskraft. Sie ist Schwäche, Le-
bensunfähigkeit,
Atrophie.
Die
Erörterung
der
Unvollkommen-
heitsform des Verkümmerns erübrigt sich nach den bisherigen Aus-
führungen.
Dagegen ist noch die folgende Feststellung wichtig. Sowohl im
Falle des Weniger wie des Mehr gilt das Gesetz: daß das übergeord-
nete Organ für das wuchernde oder zurückbleibende einzutreten
habe — ein Grundgesetz alles physischen wie geistigen ganzheit-
lichen Lebens, darum insbesondere auch des Organisationswesens.
Wir werden uns aber damit erst später eingehend zu beschäftigen
haben
1
.
Zuletzt ist noch die Frage der H e i l u n g des Überwuchernden
in Betracht zu ziehen.
Kann man das Überwuchernde in seine Schranken zwingen, kann
auch das Glied selber sein Zuviel an Ausgliederung dadurch gut-
machen, daß es dieses Zuviel zurücknimmt? Wir sind heute nach
unserer ganzen Bildungsrichtung geneigt, diese Frage zu bejahen;
doch die genaue Prüfung kommt zu einem andern Ergebnis. Grund-
sätzlich ist eine solche Zurückzwingung unmöglich. Nur in der
N e u a u s g l i e d e r u n g kann der frühere Fehler vermieden wer-
den, doch was geschah, es wird nimmermehr ungeschehen. Dieses
Ergebnis klingt infolge der uns eingeimpften individualistischen
Lebens- und Weltanschauung ungewöhnlich, denn man meint wohl,
was autark, was selbstisch entstanden ist, läßt sich auch autark, im
eigenen Umkreis, zurückbilden. So kommt eine Vorstellung von
Milde zustande, die sich aber nicht als echt erweist. Denn man
übersieht dabei, daß das Wesen jedem Ding m i t g e g e b e n i s t
1
Vgl. unten unter § 16, III, „Stellvertretung“, S. 164 f.