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Einengung des Lebenslaufes der Ganzheiten durch die Gattungs-

wesenheit; und anderseits Eigenmacht, Freiheit i n n e r h a l b

jener Notwendigkeit. Und eben darum ist „Schick- / sal“ nicht

gleichbedeutend mit dem mechanisch-determinierten Ablauf nach

der L a p l a c i s c h e n W e l t f o r m e l .

Das Sprichwort: „Der Esel graut schon im Mutterleib“, sagt uns

in unvergleichlich plastischer Weise, was der Gesamtrahmen, den die

Gattung als Schicksal um das Glied spannt, bedeute. Der Esel kann

jedenfalls nur ein Eselschicksal haben, nicht als Pegasus in den Him-

mel fliegen, noch als Fisch im Wasser leben. Ein anderes Sprichwort:

„Der Dichter wird geboren“, sagt uns in den Grundzügen dasselbe.

Es läßt uns aber zugleich erkennen, daß außer jener grundlegenden

Bestimmtheit noch die E i g e n m a c h t (vita propria) des Glie-

des in Betracht kommt. Das Schicksal des Dichters kann im Einzel-

nen sehr verschieden ausfallen. Er kann durch Selbstzucht sein Ta-

lent steigern und gebrauchen, trotz Mißgeschickes, trotz fehlender

Anerkennung und manches anderen; er kann seine Kraft vergeu-

den, seine Gabe vernachlässigen. Auf der Grundlage seiner Bega-

bung kann also die Eigenmacht einsetzen und das Wort gelten:

„Jeder ist seines Glückes Schmied“. Den Gegensatz (nicht Wider-

spruch!) zwischen jenem Wort: „Der Esel graut schon im Mutter-

leib“, und diesem letzteren: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, hat

Goethe für den, der ihn zu fassen vermag, deutlich aufgeklärt:

Wie sich Verdienst und Glück verketten,

Das fällt den Toren niemals ein,

Wenn sie den Stein der Weisen hätten,

Der Weise mangelte dem Stein.

Hierbei muß man festhalten, wie das Eigenleben, das „Verdienst“,

nur die eine Schichte bildet. Die andere, der übersubjektive Hinter-

grund, das „Glück“, ist der düstere Schatten, den kein Aug durch-

dringt, kein Lot ermißt

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Die moderne Auffassung, wonach das Schicksal sich allein aus dem Cha-

rakter entwickle, wofür Shakespeares Richard III. als Beispiel gilt (wenn auch

nicht mit Recht), leidet an der Überbetonung des Subjektiven und übersieht die

höhere Ganzheit. Der griechische Schicksalsbegriff, wie er uns in Sophokles’

Dramen begegnet, läßt dagegen die übersubjektiven dämonischen und göttlichen

Mächte gewaltig in den Vordergrund treten. Ähnlich Schiller in der Braut von

Messina, im Wallenstein und ganz besonders in der Jungfrau von Orleans. Das

Schweigen der Jungfrau auf die grimmigen Anklagen der ewig Unzulänglichen