I. Problemstellung
Will man die Untersuchung richtig beginnen, so muß man davon
ausgehen, daß (was sich zunächst allerdings von selbst versteht) die Nation
nicht als Staat selbst, als Rasse selbst usw. gefaßt werden kann, sondern nur
immer als gemeinschaftliches Haben des Staates, das heißt als
Staatsgemeinschaft der Bevölkerung (Staatsvolk), als Sprachgemeinschaft
der Bevölkerung (Sprachvolk), als Rassengemeinschaft (Raumvolk), als
Gemeinschaft der Religion usw. Es folgt: Die Nation ist als
Gemeinschaftlichkeit aufzufassen, der Begriff der Nation ist ein Begriff von
irgend welcher Gemeinsamkeit.
Dies festgehalten, zeigt sich sogleich, daß die aufgezählten
„Gemeinschaften“, mit welchen die Nation gleichgestellt wurde, ganz
verschiedenen inneren Aufbau haben.
Leute, die eine Sprache gemeinsam haben, haben damit eine bestimmte
formale Bedingung zur Aufnahme geistiger Inhalte gemeinsam; hiermit
aber die Bedingung zur Bildung geistiger Gemeinschaft auf breitestem
Grunde und zwar sowohl für den augenblicklichen Lebensinhalt, wie auch
den in der Sprache geschichtlich überlieferten. Diese Bedingung ist
allerdings zunächst nur eine formale, eine Fähigkeit zur
Gemeinschaftsbildung, von der nicht Gebrauch gemacht werden muß.
Leute, die einen Staat gemeinsam haben, befinden sich nun offenbar in
ganz anderer Lage. Sie haben nur gewisse äußere Lebensbedingungen
gemein, allerdings solche, die von größter Wichtigkeit werden können.
Nämlich, um es kurz zu sagen: die organisatorischen Bedingungen ihres
Zusammenlebens. Verfassung, (privates) Recht, Erziehung, Heerwesen,
Volkswirtschaft (als organisatorisch, z. B. durch gleichartige Zölle, Steuern,
Frachtsätze usw. zusammengefaßtes Ganzes gedacht) stellen eine mächtige
Summe solcher organisatorischer Bedingungen des Zusammenlebens dar.
Wie das geistige Leben sich unter solchen Bedingungen entwickelt, das ist
offenbar noch von vielen anderen Dingen abhängig. Während z. B. die
Deutschen in Österreich staatlich wenig gemodelt erscheinen, sind die
Schweizer stellenweise fast bis zum Verlust der ursprünglichen Nation den
staatlichen Lebensbedingungen unterworfen gewesen.