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Eine war, konnten und mußten die nationalen Eigenarten zurücktreten.
Die gleiche Sprache aller Gebildeten bewirkte also im Mittelalter eine
Ausdehnung des örtlichen Umkreises der Gemeinschaftsbildung über ganz
Europa und zugleich eine Vergemeinschaftung mit einem einzigen,
unendlich überlegenen Kulturkreis, dem christlich-antiken. Das war
a u c h a l l e i n d i e Z e i t , w o d i e R e l i g i o n v o 1 k s
t u m s b i 1 d e n d w i r k e n k o n n t e ; dadurch nämlich,
daß viele Völker durch das Mittel einer einzigen Literatursprache (1) in
eine überlegene und gemeinsame Bildungssphäre (2) hinein-
vergemeinschaftet wurden, welche in streng organischer Einheit auf ein
bestimmtes Kulturelement, die Religion, abgestimmt war (3). Nur dort, wo
sich diese drei Umstände wiederholen, sehen wir denn auch in der
Geschichte Ähnliches vor sich gehen, z. B. im früheren Verhältnis der
Türken zu den Balkanvölkern, wo durch Übertritt zum Islam eine gewisse
Entnationalisierung auch bei Sprachfremdheit eintritt. Dagegen haben die
Römer Kelten und Germanen gegenüber nicht auf diese Weise ihre
Nationalität ausgedehnt (dazu fehlte neben dem ersten vor allem das dritte
Element), sondern durch Kolonisierung, wirtschaftlichen Verkehr,
militärische Gewalt, staatlichen Zusammenhang und dergleichen — lauter
Dinge, die im Mittelalter fehlten.
Da uns heute die Eine Literatursprache fehlt, sind trotz der
unvergleichlich gesteigerten Technik des geistigen Verkehrs die einzelnen
Sprachkreise in ihrem Kulturleben mehr auf sich angewiesen und
voneinander abgeschlossen als im Mittelalter.
Ergibt sich aus dem Bisherigen: daß die ö r t l i c h e G r e n z e d e s
U m k r e i s e s
d e r
n a t i o n a l e n
G e m e i n s c h a f t s -
b i l d u n g i m w e s e n t l i c h e n d u r c h d i e S p r a c h e
g e z o g e n w i r d , so folgt eben daraus, daß eine festgeschlossene
Grenze damit noch nicht gegeben ist. Die N a t i o n i s t s o m i t i n
b e z u g
a u f
i h r e n
U m k r e i s
e b e n f a l l s
a l s
G r a d b e g r i f f a n z u s e h e n . Die Begrenzung ist nicht streng
gezogen, der zur nationalen Gemeinschaftsbildung führende
Gedankenaustausch hört auf keinem Kulturgebiete plötzlich auf. Es ist wie
ein Wasser, das in Sumpfgebiet und so erst allmählich in festes Land, das
andere Element, übergeht. Jeder französische Roman, den wir lesen, jedes
Ergebnis französischer Forschung, das in den festen Schatz unserer
wissenschaftlichen Erkenntnis übergeht, vergemein-