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Vergemeinschaftungsprozesses erscheint aber selbst wieder als geistige
Schöpfung nationalen Lebens; die Sprache, in ihrer Eigenschaft als
logisches Gebäude (Grammatik), Form des Denkens und An- schauens,
ferner in ihrer Eigenschaft als Summe aufgespeicherter Begriffe und
Denkinhalte erscheint gleichfalls als Ergebnis nationalen Denkens und
Schauens — somit sind Staat und Sprache nicht nur äußere Bedingungen,
sondern selbst Bedingtes, zugleich selbst Schöpfungen nationalen Lebens.
Das subjektive Bewußtsein nationaler Zugehörigkeit hingegen ist
weder Bedingung noch Bestandteil der nationalen Gemeinschaft, sondern
nur ein R e f l e x davon, ein subjektives Feststellen des Ergebnisses eines
objektiven Prozesses. Als eingetretener Reflex gewinnt es natürlich
größten realen, bedingenden Einfluß.
Hiermit sind alle Begriffselemente der Nation grundsätzlich klargestellt.
Bedeutung und Wechselwirkung der äußeren Bedingungen im einzelnen
zu erforschen, wäre Aufgabe einer soziologischen T h e o r i e d e r
N a t i o n , was weit über den Rahmen der bloßen Begriffsuntersuchung
hinausginge.
VII. Der Wert der nationalen Gemeinschaft
Die Nation als Kulturgemeinschaft begriffen erscheint von selbst als
Kultur w e r t , als individuelle Lebensgestalt und Trägerin der Kultur.
Nationale Gesinnung, Betätigung der nationalen Gesinnung kommt daher
einer Pflege von Kulturwerten gleich. Und jeder Nationalstolz, jede
n a t i o n a l e B e w e g u n g i s t s o v i e l w e r t , a l s d i e
K u l t u r w e r t i s t , a u f d e r e n E r h a l t u n g u n d
S t ä r k u n g s i e s i c h r i c h t e t . Der Widerstreit der Nationen
erhält damit ein ähnliches Gesicht wie der bestimmter Richtungen in
Kunst, Wissenschaft, Religion. Der Gegensatz zwischen römischem und
griechischem, englischem und deutschem nationalenWesen ist schließlich
kein anderer, als der zwischen Empirismus und Idealismus. Und so liegt die
Wahrheit im geistigen Kampf der Nationen nirgends anders, als wo sie
auch im Kampf der Meinungen liegt, wo sie in Wissenschaft, Philosophie,
Kunst und Moral an sich liegt — das übersieht der Kosmopolitismus. Er ist
daher sentimental aber nicht wahr.