18
[10/11]
den Widerspruch zwischen jenem eleatischen reinen Sein und dem
heraklitischen fließenden Werden zu lösen. Aristoteles bildete diese
Unterscheidung zu der eines möglichen Seins
(
όν δυνάμει)
und
eines entwickelten oder wirklichen Seins
(
όν ένεργεία
)
fort. Auch
diese Unterscheidung beschäftigte die spätere Philosophie immer
wieder
1
. Über sie hinaus bestimmte aber Aristoteles noch weiter-
hin die verschiedenen Bedeutungen, die man mit dem Begriffe
„Sein“ verbinden kann. Und zwar unterschied er nach Franz Bren-
tanos allgemein anerkannter Darstellung vier Bedeutungen
2
: (1) Das
Sein nach den Bestimmungen der Kategorien; (2) das Sein als Ver-
mögen (Möglichkeit) und als Wirklichkeit (besser: Verwirklichung);
(3)
das Sein als Substantielles (Dingliches) und als Akzidentielles;
(4)
das Sein im Sinne des Wahren oder Falschen, das heißt, sofern es
im bloßen Denken gesetzt ist
3
.
/
1
Siehe unten S. 28 ff.
2
Vgl. Franz Brentano: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach
Aristoteles, Freiburg i. Br. 1862. — Schon früher hatte Friedrich Adolph
Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre, Berlin 1846, S. 157 [= Histori-
sche Beiträge zur Philosophie, Bd 1] drei Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles
festgestellt: „Zunächst wird [als Seiendes] was an sich ist, in den Gestalten der
Kategorien bezeichnet; dann bedeutet das Sein Wahres und das Nicht-Sein Falsches,
endlich bedeutet das Sein auch das Seiende dem Vermögen und der Wirklich-
keit nach “ So Trendeienburg, indem er sich dabei auf Aristoteles: Metaphysik,
VII, 7, 1017 a, 35, beruft. — Vgl. auch Hermann Bonitz: Index Aristotelicus,
Berlin 1870, 220 b, 38 ff.
3
Zur Erläuterung noch einige Bemerkungen: (1) Das akzidentielle Sein, das
Sein im Sinne des Hinzukommenden, Anhaftenden (An- / fälligen, ens per
accidens,
όν χατά σνμβεβηχός)
ist das Gegenteil jenes Seins, welches selbständig,
das heißt durch seine eigene Wesenheit besteht, des Seins der Substanz nach, des
όν χαθ‘ αυτό.
(Beispiel: das Akzidens „Weiß“ besteht nur an den Dingen, die
Substanzen, z. B. der Mensch, bestehen für sich selbst). (2) Das Sein als ein bloß
Gedachtes unterscheidet Aristoteles in der Bedeutung des Wahren
(όν
ώς
άληθές
ens tamquam verum), dessen Gegenteil das ist, was „unrichtig“ ist, das Falsche,
das Trügerische, das nicht ist (das
μή όν ώς ψεΰδος).
Wenn man z. B. über einen
Satz sagt: „so ist es“ oder „so ist es nicht“, ist das Sein als wahres oder falsches
bezeichnet. „Sein“ hat dann die Bedeutung von wahr oder gültig, Nicht-Sein die
Bedeutung von falsch oder ungültig. — Beim „Sein“ im Sinne von zufällig und
substantiell sowie im Sinne von wahr oder falsch handelt es sich, wie gesagt, im
Sinne des Aristoteles nicht um die ureigentlichen Bedeutungen von „Sein“. — Nun
die beiden eigentlichen Bedeutungen von „Sein“: (3) Das Sein in seiner Gestaltet-
heit oder Bestimmtheit durch die obersten Gattungen, die „Kategorien“ (z. B. als
„Mensch“, „groß“ bestimmt, das heißt nach den Kategorien der Substanz, Quanti-
tät und so fort). Unter diesen Kategorien ist die Wesenheit, die
ovoia,
substantia
die tragende, daher ist „Substanz“ das v o r n e h m l i c h S e i e n d e . —