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[14/15/16]
D.
Der G e g e n s a t z v o n S e i n u n d G e l t u n g
i m b e s o n d e r e n
Noch kann eine letzte Form des Seinsbegriffes unterschieden
werden, jene, die in dem vielberufenen Begriffe des / „Gehens“ zum
Ausdrucke kommt. Diesen Begriff hatte L o t z e eingeführt
1
; er
wurde von der neukantischen Schule sowie von der ihr folgenden
„phänomenologischen Schule“ aufgenommen und ist heute noch
verbreitet. „Gelten“ ist als Gegensatz zum objektiven, nach natur-
haft-ursächlicher
N o t w e n d i g k e i t
ablaufend
gedachten,
„Sein“ zu verstehen. Weil und sofern im kausalmechanischen Ablauf
der Natur das Geltende, die Norm, nicht erfüllt wird (Beispiel:
Mißgeburt), wird das Geltende zum „Gesollten“, zum S o l l e n .
Der Gegensatz von Gelten oder Sollen zum gegebenen Sein (Natur-
sein) erscheint auf diesem Standpunkte als unversöhnlich! Da der
wirkliche Ablauf des Geschehens, das „Sein“, sowohl von den neu-
kantischen Schulen wie von der phänomenologischen Schule als
Bewußtseinsgegebenheit, als immanent, bestimmt wird, so folgt:
daß das „Gesollte“ von diesen Schulen nicht als transzendentes Sein
gefaßt wird, das über dem immanenten stünde. Infolgedessen ver-
mag nach dieser Lehre das „Sollen“ oder „Gelten“ auch das Sein
nicht zu bestimmen. „Gelten“ ist danach ein transzendentaler Be-
griff, der dennoch ein transzendentes Sein nicht zu erreichen ver-
mag; er bleibt im Methodologischen stecken. (Methodologisch hat
der Begriff des Geltens in den Einzelwissenschaften viel Gutes gestif-
tet, da er eine eigene Betrachtung n e b e n der kausalmechanischen
Auffassung ermöglichte.) Gibt es danach kein gesichertes transzen-
dentes Sein, so fallen diese Schulen trotz der grundlegenden Rolle
des „Gehens“ wieder in die alte Immanenzlehre zurück und können
eine eigentliche Ontologie weder aufbauen noch anerkennen.
Dagegen verliert der Gegensatz des Geltens oder Sollens zum Sein das
Unüberbrückbare, wenn mit der Anerkennung eines übersubjektiven Seins Ernst
gemacht wird. Dann ist alles Sein seinem Begriffe nach gesolltes Sein und die
Nicht-Übereinstimmung mit dem Sollen / gehört dann in die Lehre vom Un-
vollkommenen, also nicht mehr in die Frage des Seinsbegriffes selbst
2
.
1
Hermann Lotze: Logik, Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und
vom Erkennen, Leipzig 1912, § 316 und öfter (= Philosophische Bibliothek,
Bd 141).
2
Vgl. den Nachweis in meinem Buch: Kategorienlehre, 2. Aufl., Jena 1939,