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22

[14/15/16]

D.

Der G e g e n s a t z v o n S e i n u n d G e l t u n g

i m b e s o n d e r e n

Noch kann eine letzte Form des Seinsbegriffes unterschieden

werden, jene, die in dem vielberufenen Begriffe des / „Gehens“ zum

Ausdrucke kommt. Diesen Begriff hatte L o t z e eingeführt

1

; er

wurde von der neukantischen Schule sowie von der ihr folgenden

„phänomenologischen Schule“ aufgenommen und ist heute noch

verbreitet. „Gelten“ ist als Gegensatz zum objektiven, nach natur-

haft-ursächlicher

N o t w e n d i g k e i t

ablaufend

gedachten,

„Sein“ zu verstehen. Weil und sofern im kausalmechanischen Ablauf

der Natur das Geltende, die Norm, nicht erfüllt wird (Beispiel:

Mißgeburt), wird das Geltende zum „Gesollten“, zum S o l l e n .

Der Gegensatz von Gelten oder Sollen zum gegebenen Sein (Natur-

sein) erscheint auf diesem Standpunkte als unversöhnlich! Da der

wirkliche Ablauf des Geschehens, das „Sein“, sowohl von den neu-

kantischen Schulen wie von der phänomenologischen Schule als

Bewußtseinsgegebenheit, als immanent, bestimmt wird, so folgt:

daß das „Gesollte“ von diesen Schulen nicht als transzendentes Sein

gefaßt wird, das über dem immanenten stünde. Infolgedessen ver-

mag nach dieser Lehre das „Sollen“ oder „Gelten“ auch das Sein

nicht zu bestimmen. „Gelten“ ist danach ein transzendentaler Be-

griff, der dennoch ein transzendentes Sein nicht zu erreichen ver-

mag; er bleibt im Methodologischen stecken. (Methodologisch hat

der Begriff des Geltens in den Einzelwissenschaften viel Gutes gestif-

tet, da er eine eigene Betrachtung n e b e n der kausalmechanischen

Auffassung ermöglichte.) Gibt es danach kein gesichertes transzen-

dentes Sein, so fallen diese Schulen trotz der grundlegenden Rolle

des „Gehens“ wieder in die alte Immanenzlehre zurück und können

eine eigentliche Ontologie weder aufbauen noch anerkennen.

Dagegen verliert der Gegensatz des Geltens oder Sollens zum Sein das

Unüberbrückbare, wenn mit der Anerkennung eines übersubjektiven Seins Ernst

gemacht wird. Dann ist alles Sein seinem Begriffe nach gesolltes Sein und die

Nicht-Übereinstimmung mit dem Sollen / gehört dann in die Lehre vom Un-

vollkommenen, also nicht mehr in die Frage des Seinsbegriffes selbst

2

.

1

Hermann Lotze: Logik, Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und

vom Erkennen, Leipzig 1912, § 316 und öfter (= Philosophische Bibliothek,

Bd 141).

2

Vgl. den Nachweis in meinem Buch: Kategorienlehre, 2. Aufl., Jena 1939,