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F ü n f t e r A b s c h n i t t

Über einige strittige Fragen der Seinslehre

I. Daß der aristotelische Satz: „Das Wirkliche ist vor dem Mögli-

chen“ teils zu bestätigen, teils zu berichtigen sei

A. Die B e g r ü n d u n g d e s S a t z e s :

„ D a s W i r k l i c h e i s t v o r d e m M ö g l i c h e n “

Aristoteles stellte den Satz auf: „Das Wirkliche ist vor dem Mög-

lichen“, indem er darlegte, daß zur Entstehung eines Dinges, als

dem Inbegriffe einer Möglichkeit, stets das wirkliche Ding nötig sei.

Ein Mensch, bemerkt er, könne nur durch einen Menschen entste-

hen. Aber nicht nur der Zeit nach

(

χρόνω,

auch dem Begriffe und

Wesen, der Substanz nach (λόγω und

οϋσια)

besteht der Vorrang des

Wirklichen. Darum ist das Huhn vor dem Ei, die Pflanze vor dem

Samen.

In der Metaphysik des Aristoteles (IX 8, Anfang) heißt es: .. daß die Wirk-

lichkeit früher ist als die Möglichkeit...“ und zwar .. überhaupt früher als

jedes aktive Prinzip der Bewegung und Ruhe.“ „Es ist nun die Wirklichkeit

früher als alle diese Potentialität, sowohl dem Begriffe als der Substanz nach;

die Zeit aber anlangend, so ist sie in einer Beziehung früher, in anderer nicht.“

1

Ebenda 1050 a heißt es: „Aber auch der Substanz nach ist [die Wirklichkeit]

früher [als die Möglichkeit]. Erstens weil das der Entstehung nach Spätere der

Form und der Substanz nach vorangeht, der Mann zum Beispiel vor dem Knaben,

der Mensch vor dem Samen, indem das eine bereits die Formvollendung hat, das

andere nicht. Sodann weil alles Werdende einem Prinzip, nämlich dem Ziele,

zustrebt. Denn das Weswegen ist Prinzip und das / Werden ist wegen des Zieles.

Ziel aber ist die Aktualität... Denn die sinnlichen Wesen sehen nicht, um das

Gesicht zu haben, sondern haben das Gesicht, um zu sehen. Ebenso hat man die

Baukunst, um zu bauen, die Fähigkeit des Denkens, um zu denken, aber man

denkt nicht, um die Fähigkeit des Denkens zu erlangen .. . Ferner ist die Materie

1

Aristoteles: Metaphysik, deutsch von Eugen Rolfes, 2. Aufl., Leipzig 1920,

S. 234 (= Philosophische Bibliothek, Bd 2 b—3 b).