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werden, so kann sie nur so gedacht werden, daß Gott logisch oder
zeitlich oder auf beide Weisen, mindestens aber immer logisch,
vor der Welt, der wirkliche Gott vor der möglichen Welt ist, daher
die in sich selbst nicht gegründete Welt n a c h der in sich selbst
gegründeten Gottheit, der lauteren Wirklichkeit ist.
B. Daß der S a t z : „ D a s W i r k l i c h e i s t v o r d e m
M ö g l i c h e n “ n u r g e n e t i s c h e G ü l t i g k e i t h a b e ,
b e g r i f f l i c h a b e r d e r S a t z g e l t e n m ü s s e : „ D a s
M ö g l i c h e i s t v o r d e m W i r k l i c h e n “
Trotzdem die dargelegten einzelnen aristotelischen Feststellun-
gen nicht angefochten werden können, ergibt sich ein unbehagliches
Gefühl. Es sind doch, so muß man sich sagen, die Möglichkeiten, die
Verwirklichung finden — diese Möglichkeiten müssen also, wenn
man von dem zeitlichen, genetischen Hergang absieht, logisch vor
ihrer Verwirklichung den Vorrang haben. Die Möglichkeiten sind es
ja, welche die Wirklichkeiten begründen. Wirklichkeiten, die un-
möglich sind, kann es auch nie geben.
Trotzdem wir also, wir wiederholen es, die einzelnen Sach- /
verhalte, die Aristoteles und seine Schüler feststellen, je für sich
durchaus anerkennen, müssen wir doch behaupten: daß der Satz
„das Wirkliche ist vor dem Möglichen“, nicht schlechthin gilt und
den Zusammenhang jener Sachverhalte und Einzelsätze nicht richtig
wiedergibt. Wo steckt aber der Fehler, wenn sowohl das wirkliche
Pferd für das entstehende Pferd, wie der wirkliche Gott für die
entstehende Welt nötig ist?
Die Lösung ist: daß der Begriff „Wirklichkeit“ in dem Satze
„das Wirkliche ist vor dem Möglichen“, nicht eindeutig gebraucht
wurde, sondern z w e i v e r s c h i e d e n e B e d e u t u n g e n
m i t e i n a n d e r v e r m e n g t wurden. Wir finden:
1.
In dem Satze: „Das wirkliche Pferd ist vor dem möglichen
Pferd“, ist unter „wirklich“ die s i n n f ä l l i g e Wirklichkeit ver-
standen.
2.
In dem Satze: „Der wirkliche Gott ist vor der nur möglichen
Welt“, ist „wirklich“ nicht die sinnfällige Wirklichkeit, sondern
jene ü b e r s i n n l i c h e Wirklichkeit, welche die sinnliche erst