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Stimmungen noch im einzelnen. Nach Parmenides ist das reine
Sein ungeworden und unvergänglich, ganz und unbewegt
1
. / In
Wahrheit fanden wir das „Sein“ statt ungeworden: unaufhörlich
neu hervorbrechend aus Geschaffenwerden, unaufhörlich geworden
und werdend.
Ferner ergab sich uns schon aus der allgemeinen Natur der schaf-
fenden Ausgliederung alles Sein nicht als unvergänglich, sondern als
unaufhörlich vergehend, aber auch unaufhörlich entstehend, neu
geschaffen und neu schaffend. Ein höheres Sein als unsere sinnfällige
Welt mag auch größere Beständigkeit haben, weniger Wechsel zei-
gen, vollkommener sein. Aber auch seine Beständigkeit kann nur
auf unaufhörlichem Neu-geschaffen-Werden beruhen. A l l e g e -
s c h ö p f l i c h e U n v e r g ä n g 1 i c h k e i t i s t n u r
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m i t t e l b a r e , sie beruht auf immer neuer Ausgliederung nach
fortwährender Rücknahme, sie ist U n v e r s i e g l i c h k e i t des
Geschaffen-Werdens und Schaffens, keine starre Dasselbigkeit, die
ohne inneres Leben wäre.
Dasselbe gilt von der Bestimmung „unbewegt“. Auch sie kann
nur auf Beständigkeit in der inneren Bewegung, nicht auf Bewe-
gungslosigkeit gehen — die Tod wäre.
Daß aber alles höhere Seiende „ganz“ ist, darin haben die Eleaten
recht. Doch vollkommen „ganz“ ist nur Gott: je entfernter von
Gott, um so weniger ist etwas „ganz“. Was heißt aber hier „ganz“?
„Ganz“ kann hier nur heißen: i n s g e s a m t a u s g e g l i e d e r t .
So daß nicht stückweise und schrittweise die Ausgliederung erfolgt,
wie in dieser sinnfällig-zeitlichen Welt, sondern die Gesamtaus-
gliederung — bei unaufhörlicher Rücknahme und Neuausgliederung
—
unaufhörlich vollständig, heil und ganz ist. Je größer das schaf-
fende Vermögen eines Wesens ist, um so vollständiger wird diese
Gesamtausgliederung erreicht. Jener Schöpfer, dem nichts fehlt, ist
nur Gott. Aber alles Geschaffene ist ihm ähnlich. Jeder jeweilig
Schaffende ist seinem Geschöpfe gegenüber — sofern er Schöpfer ist
—
seinem Begriffe nach fertig, ist insgesamt ausgegliedert, ist actu.
Das Haus steht vor den Augen des Baumeisters, die Bild- / säule
vor den Augen des Bildhauers, das Schauspiel vor den Augen des
Dichters, die Tat vor den Augen des Helden — sofern Baumeister,
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Vgl. oben S. 25 ff.