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E.
W a r u m d e r S a t z : „ D a s W i r k l i c h e i s t v o r d e m
M ö g l i c h e n “ i m g e n e t i s c h e n V e r l a u f e
n o t w e n d i g g e l t e n m ü s s e
Würde man diese Frage rein aristotelisch beantworten, so müßte
die Notwendigkeit des genetischen Vorranges der Wirklichkeit da-
mit erklärt werden, daß die Welt aus dem bloß Möglichen und dem
Zufall (Chaos) nicht entstehen könne, sondern die wirkliche Gott-
heit dazu nötig sei. Diese Erklärung genügt aber nur für den Vor-
rang Gottes vor der Welt, der höheren Wirklichkeit vor der sinn-
lichen, nicht zur Erklärung des genetischen Vorranges der Wirklich-
keit innerhalb der sinnlichen Ebene selbst.
Die Frage, warum ein Mögliches stets ein schon sinnfällig Wirk-
liches brauche, um seinerseits in die sinnfällige Wirklichkeit ein-
zutreten, ist mit den bisher entwickelten Begriffsmitteln nicht ganz
unbeantwortbar. Die Antwort darauf lautet: Weil die Welt nur als
Gesamtganzes, das heißt aber in Mit-Ausgliederung aller ihrer Teile
besteht. In der „Mit-Ausgliederung“ ist aber auch die Verbunden-
heit mit dem Stoffe, die Gezweiung höherer Ordnung, inbegriffen
1
.
Wird die Welt als Gesamtganzes ins Auge gefaßt und nicht nur
einzelne Stücke, zum Beispiel ein bestimmter Mensch, der geboren,
ein bestimmter Gedanke, der gedacht werden soll, dann / ist sie so-
wohl im Zusammenhange einer bestimmten s y s t e m a t i s c h e n
Gesamtausgliederung (in einem inneren systematischen „Zusammen-
hange“) gegeben, wie auch in einer bestimmten z e i t l i c h e n
Umgliederung, also in einer solchen Aufeinanderfolge der auszu-
gliedernden Glieder gegeben, welche dem jeweilig v e r w i r k -
l i c h t e n M i t e i n a n d e r dieser Glieder entspricht. Die Mög-
lichkeiten, die wirklich werden sollen, sind nicht zusammenge-
schneit, sondern in dem gesamten Gliederbau der Wirklichkeit je-
weils in bestimmter Weise enthalten. Wenn sie aber enthalten sind,
so werden sie nicht abstrakt vereinzelt, für sich, sondern aus dem
Gesamtganzen heraus zum sinnfälligen Ausgliedern kommen müs-
sen; die einzelnen Möglichkeiten „werden“ darum nur im An-
s c h l u s s e an schon Wirkliches; sie sind Glieder (sozusagen Teil-
möglichkeiten) einer solchen Gesamtmöglichkeit, welche jeweils
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Siehe darüber unten S. 167 ff.