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2. Der B e g r i f f d e s a c t u s p u r u s
u n d S c h e l l i n g
Man kann sagen, daß nach Schellings Lehre vom „unvordenk-
lichen Sein in Gott“, der von uns oben
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berichtigte Aristoteles-
satz: „Das Wirkliche ist vor dem Möglichen“, für Gott gelten
würde. Denn was ist das unvordenkliche Sein anderes, als ein Wirk-
liches, das begrifflich vor dem Schalten und Walten des Denkens
da ist?
Dieser Satz gilt aber hier nicht einmal genetisch: denn die Wirk-
lichkeit Gottes kann sich doch in keinem Sinne von einer voran-
gehenden Wirklichkeit in ihm ableiten — nur dann aber wäre die
spätere Wirklichkeit früher eine bloß mögliche gewesen, / nur dann
wäre Wirklichkeit vor Möglichkeit. — Hieraus erhellt die Gefähr-
lichkeit des angeführten aristotelischen Satzes sowie jenes weite-
ren Satzes: „Der Gegenstand ist vor dem Denken“, wonach das Ge-
dachte s c h l e c h t h i n vor dem Denken, also das Sein unvor-
denklich wäre!
Da es Schelling so sehr darum zu tun ist, eine „Differenz in Gott“ zu setzen,
so ist zu bemerken, daß in der lauteren Wirklichkeit eine solche durchaus denkbar
ist. Ohne den späteren Untersuchungen vorzugreifen, sei hier nur folgendes ge-
sagt. Es leuchtet ein, daß der actus purus als reine Selbstausgliederung, als reine
Selbstsetzung verstanden werden muß, wo nichts erleidend gesetzt wird, sondern
alles sich selbst setzt. Diese Selbstsetzung hat aber doch die eine „Differenz“,
daß das Gesetzte setzend wirkt, notwendig in sich. Somit geht dem Begriffe
nach ein Tun dem Tun v o r a n . (Das Gesetzte kann logisch erst später
setzend werden.) Der a c t u s p u r u s f o r d e r t n u r , d a ß k e i n e M ö g -
l i c h k e i t z u r ü c k b l e i b t , n i c h t a b e r , d a ß d a s u r a n f ä n g l i c h e
S e t z e n n i c h t e i n e n I n b e g r i f f v o n M ö g l i c h k e i t e n , d i e
d u r c h g e f ü h r t w e r d e n , l o g i s c h i n s i c h s c h l ö s s e (freilich
geht dies nicht in der Zeit vor sich). Damit ist kein „unvordenkliches Sein“ ge-
setzt, keine Wirklichkeit vor der Möglichkeit im Sinne zweier Stufen. Wohl aber
sind damit begrifflich zwei Seiten und das Ganze als P r o z e ß gegeben — es
ist gerade das erreicht, was Schelling so heftig fordert. — Ferner liegt darin aber
auch, daß im Gesamtganzen der Verwirklichung der Sich-selbst-Setzende auch
Herr seiner selbst ist, da ja schon im Begriffe der Selbstsetzung diese Herrschaft
liegt. Es ist daher nicht richtig, was Schelling meint, daß die lautere Wirklichkeit
als das schlechthin Seiende auch das notwendig Seiende, das blinde oder unvor-
denkliche Seiende wäre. Im Begriffe der Setzung liegt, daß ein seiner selbst mäch-
tiges Sein (gleichsam ein Gedanke) am Anfange steht und nicht das blind objek-
tive Sein — das als nicht-sich-setzend gefaßt undenkbar wäre. Wo aber Setzung
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Siehe oben S. 92 ff.