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Die erste Frage, ob der Raum als ein Übersubjektives zu bestim-
men, oder ob er eine subjektive Anschauungsform sei, wurde erst-
mals durch K a n t gestellt und gründlich behandelt. Kant behaup-
tet die apriorische Subjektivität des Raumes. Kant wehrte sich in
den „Prolegomena“ gegen den Vorwurf, die Sinnenwelt werde da-
durch in Schein verwandelt, mit Recht. Aber für die Räumlichkeit
des Sinnlichen ergibt sich dieser Schein unvermeidlich, wenn auch
gegen den Willen seines Urhebers. Der Raum ist Kanten kein empi-
rischer Begriff, der bloß von der äußeren Erfahrung gewonnen
wäre, sondern folgt aus einem subjektiven Apriori, einer apriori-
schen Anschauungsform
1
. Kant sagt: Damit ich gewisse Empfin-
dungen auf etwas außer mir beziehe, muß die Vorstellung des Rau-
mes in meinem Geiste schon vorhanden sein, muß sie eine Form
meiner Anschauung sein. Schon Schelling antwortete hierauf tref-
fend: Dies folgt nicht aus jenem Gedankengange. „Es würde viel-
mehr folgen, daß, weil wir äußere Gegenstände nicht anders vor-
stellen k ö n n e n als im Raume, der Raum zu den Gegenständen
selbst ein apriorisches Verhältnis hat, . .. ihnen objektive Möglich-
keit . .. gibt.“
2
— / Diese objektive Ansicht, die hier Schelling
vertritt, vertraten alle ontologischen Schulen der Philosophie, Pla-
ton, Aristoteles
3
, die Scholastik, Schelling, Hegel, Baader, Fichte
der Jüngere, Trendelenburg; die subjektivistische Ansicht lehrte
zuerst Kant, vor ihm in gewissem Sinne schon Leibniz, soferne näm-
lich dessen Monaden unräumliche Wesen sind, daher die Raumform
in ihrer Auffassung der Welt liegen muß, nach ihm die neukanti-
schen Schulen und Immanenzschulen von heute. — Eine empiri-
1
Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Originalausgabe
neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 37 ff. (= Philo-
sophische Bibliothek, Bd 37 d).
2
Schelling: Darstellung des Naturprocesses (1843), Sämtliche Werke, Abt. 1,
Bd 10, Stuttgart 1861, S. 315. — Eine scharfsinnige Kritik dieser Kantischen
Lehre auch bei Friedrich Adolph Trendelenburg: Logische Untersuchungen,
Bd 1, 3. Aufl., Leipzig 1870, S. 158 ff.
3
Vgl. Aristoteles: Physik, IV, 1—4. Der Raum ist „. . . weder die Form, noch
der Stoff, noch eine Ausdehnung, welche n e b e n dem Dinge und von diesem
verschieden immer vorhanden wäre“, daher „. . . muß der Ort
(τόπος)
notwen-
dig ... sein, die Grenze des u m f a s s e n d e n Körpers, wobei ich unter dem
von ihm b e f a ß t e n Körper das in der Raumbewegung Bewegbare ver-
stehe“. Aristoteles: Acht Bücher Physik, griechisch und deutsch von Karl von
Prantl, Leipzig 1854, IV, 4, 61.