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dualisiert und, wie sich zeigte, das Allgemeine verlorengegangen.
Da aber der Aristotelische Standpunkt der Immanenz diesen Ver-
lust des Allgemeinen nicht zugeben wollte, suchte er ähnlich wie der
Platonische doch nach einem Individuationsgrunde und kann ihn
zuletzt, wie Platon, nur in der Materie finden. Die Materie, bei
Aristoteles und den mittelalterlichen Aristotelikern das an sich Be-
stimmungslose, die reine Potenz
1
, sollte nun doch der Darstellung
der Idee in ihr Widerstand leisten, wodurch individuelle Abwei-
chungen erklärlich werden. Auch hier war also, zuletzt doch ähnlich
wie bei Platon, die Individualität herabgemindert, entwertet.
Mit dieser Schwäche der Individuationslehre hängt eine andere
zusammen, die später sogenannte Lehre von der Herausführung
oder Eduktion (eductio) der Formen aus der Materie. Forma / educi-
tur ex potentia materiae lautet ein scholastisch-aristotelischer Satz
2
.
Das Entstehen eines neuen Körpers geschieht, indem die „Form“
(
μορφή)
des alten Körpers verschwindet (zum Beispiel Holz) und
eine neue an ihre Stelle tritt (zum Beispiel Asche), wobei aber die
Materie, die alle diese Formen aufnimmt (die materia prima, das an
sich Bestimmungslose, nur Potentielle) dieselbe bleibt. — Der Be-
griff der „Eduktion“ fordert nun: daß die Form selbst schon im
Stoffe potentialiter enthalten sei! Im Marmorblock, so sagte man
sich, ist die Bildsäule in potentia bereits enthalten, es gilt nur, sie
durch die schaffende Idee des Künstlers herauszuführen, zu eduzie-
ren, ebenso sei das Feuer im Holz, die Asche im Feuer enthalten. —
Wie soll aber das potentielle Sein der Formen im Stoffe gedacht
werden?, ist dann der Stoff noch das an sich Bestimmungslose und
im Wechsel der Formen Bleibende, wenn er zuletzt doch selbst der
I n b e g r i f f a l l e r F o r m e n ist?
Im neuscholastischen Schrifttum wurde wiederholt anerkannt, daß die Lehre
von der „Eduktion“ ein wunder Punkt der ganzen Lehre von der Materie und
Form sei
3
. Sie ist aber nicht nur ein wunder, sondern ein unheilbarer Punkt.
1
Uber den Begriff der Materie als reine Potenz siehe oben S. 171 f., 312 f. —
und 425 f.
2
Die Nachweise siehe bei Ludwig Schütz: Thomas-Lexikon, Sammlung,
Übersetzung und Erklärung der in sämtlichen Werken des hl. Thomas von Aquin
vorkommenden Kunstausdrücke und wissenschaftlichen Aussprüche, 2. Aufl.,
Paderborn 1895, S. 262.
3
Vgl. Joseph Krause: Die Lehre des hl. Bonaventura über die Natur der
körperlichen und geistigen Wesen und ihr Verhältnis zum Thomismus, Pader-
born 1888 (siehe oben S. 426).