D r i t t e r A b s c h n i t t
Die Zeitfolge oder der genetische Vorrang
XVI.
Der Unterschied zwischen der Aufeinanderfolge im Werden
und dem begrifflichen Vorrange
Die Verhältnisse des begrifflichen Vorranges dürfen nicht mit den
zeitlichen Werdensvorgängen, anders gesagt, mit den genetischen
Abfolgen, verwechselt werden. Der Satz „Religion ist vor Wissen-
schaft“ zeigt nur ein begriffliches, ein wesenhaftes, logisches Vor-
rangverhältnis an, keine greifbare Setzung des Werdens, keine reale
Genesis an. Ist dieser Unterschied einmal erkannt, dann ist es auch
klar, daß es auf genetischem Gebiete keinen „Vorrang“ im eigent-
lichen Sinne des Wortes geben kann. Im Gange des Werdens kann es
nur ein zeitliches Vorher oder Nachher, Früher oder Später, kein
begriffliches, wesenhaftes Vorher (Prius), und das heißt eben, keinen
„Vorrang“ im eigentlichen Sinne geben.
Jene Grundtatsache nun, welche im genetischen Bereiche herrscht,
ist, wie die genauere Betrachtung zeigt: daß A r t g l e i c h e s n u r
a u s A r t g l e i c h e m folge. Ganz im allgemeinen zeigt uns dies
auch die stoffliche Natur: Im Gravitationsfeld geschehen nur Bewe-
gungen; im elektrodynamischen Felde nur elektrodynamische Vor-
gänge; aus der Frucht eines Eichbaumes wird nur ein Eichbaum, aus
einem Hühnerei keine Taube und so fort, wie es schon das Sprich-
wort ausdrückt: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme“. Was sich
aber der Gesellschaftsforscher tief einprägen und klarmachen muß,
ist die Grundtatsache, daß infolge dieser genetischen Artgleichheit
im Bereiche der gesellschaftlichen Teilinhalte H a n d e l n n u r a u s
H a n d e l n , G e i s t i g e s n u r a u s G e i s t i g e m f o l g e .
Wir sehen in der Gesellschaft und Geschichte überall, wie z. B.
organisatorisches Handeln nur aus dem zeit- / lichen Vorher von or-
ganisatorischem Handeln, wie Anstalt nur aus Anstalt, Staat nur