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jeweils früher Erreichten erklärt werden, eben darum kann Ge-
schichte niemals aus der Vergangenheit erklärt werden, wie wir
immer wieder sagen müssen. Es ist etwas Schöpferisches, das in der
Umgliederung hervortritt. Schöpfertum aber verlangt Uberwelt.
Die Geschichte des Menschen ist mit seiner eigenen Wirklichkeit
nicht erschöpft, es muß etwas hinter ihm stehen, das den Einbruch
vollzieht, und es muß eine Einbruchstelle in der Seele des Menschen
haben.
Keine Geschichte ohne Schöpfung.
Wie im einzelnen Menschen als dem Gliede des Ganzen, so auch
im Ganzen selbst. So auch in der Weltgeschichte. Die Geschichte
ist die Einbruchsstelle der Überwelt. Der Einzelgeist kann nicht
genau bleiben, wie er ist. Staaten können nicht bleiben noch weiter-
bestehen, wie sie eben sind. Sie müssen sich immer wieder neu
setzen. In diesem „Neuen“ findet der Einbruch eines Übergeschicht-
lichen statt.
In der Geschichte waltet eine Hintergründigkeit, die uns erklärt,
warum nicht Beliebiges geschehen kann, kein Urgemenge einbricht,
keine Freiheit an sich waltet, ebensowenig wie beim einzelnen Men-
schen. Das neu Entstehende der Geschichte kommt aus einer anderen
Ebene her. Wie es an Früheres der geschichtlichen Ebene anknüpfen
muß, so auch an eine Ordnung in der übergeschichtlichen Ebene. /
Entweder gibt es keine Geschichte, dann gilt notwendig die
Laplacische Weltformel, mit der wir das Blind-Notwendige errech-
nen; oder es gibt Geschichte, dann muß ein metaphysischer Einbruch
angenommen werden, dann müssen wir zur metaphysischen Betrach-
tung der Geschichte zurückzukehren den Mut aufbringen.
Es genügt demnach nicht, den Rationalismus da und dort ein-
zudämmen. Mit der rationalistischen Ansicht der Geschichte muß
ganz und gar gebrochen werden. Wenn wir annehmen, daß die
Menschen in der Geschichte das tun, was in ihren jeweiligen Vor-
aussetzungen und Bedingungen liegt, dann müssen wir alle Ge-
schichte überhaupt aufgeben und zur reinen Allgemeinwissenschaft
einer sozialen Dynamik zurückkehren. Wenn wir jedoch glauben,
es gebe nicht nur mechanische Veränderung sondern wahrhafte
Geschichte, dann müssen wir das Neue, das Schöpferische aner-
kennen, das im Gang der Geschichte immer wieder aufbricht, und
das Geheimnis ehren, das sich niemals ganz offenbart.
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