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Der zweite Einwand betrifft die inneren Schwierigkeiten der Un-
terscheidung „nomothetisch-idiographisch“. Denn wenn der Allge-
meinbegriff — woran Windelband und Rickert festhalten — auf
der Überwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Sinnes-
eindrücke beruht, so ist zwar, nach dieser Lehre, der Auswahlgrund-
satz gegeben, nämlich die statistische Gemeinsamkeit der Merkmale;
aber wo ist der A u s w a h l g r u n d s a t z f ü r d i e M e r k -
m a l e d e r E i n m a l i g k e i t ? Auch der Dschingiskhan, Friedrich
der Große, Bismarck, sämtliche Menschen und Ereignisse der Welt-
geschichte, sie alle haben ja unübersehbar viele einmalige Eigenschaf-
ten! Nicht die Länge der großen Zehe, Wadenumfang, Anzahl der
Haare usw., nicht diese einmaligen, unwiederholbaren Eigenschaf-
ten, sondern nur ganz bestimmte sind es, welche die geschichtliche
Begriffsbildung erfaßt. Welche? Windelband gab keinen klaren Aus-
wahlgrundsatz an; Rickert suchte die „Wertbeziehung“ als solchen
zu begründen, begab sich damit aber nicht nur auf ein unsicheres
Feld, sondern vermochte auch die rein logische Schwierigkeit, näm-
lich die Frage der Begriffsbildung deshalb nicht zu lösen, weil nun
der idiographische Begriff von einer Theorie der Wertung abhing.
Will man eine Lösung dieser Schwierigkeiten anbahnen, dann
muß man den empiristischen Boden der Begriffsbildungslehre über-
haupt verlassen.
Gegen die empiristische Logik ist zuerst einzuwenden, daß der
Begriff keine bloße Summe von Merkmalen ist. Die Merkmale
bilden einen Gliederbau. Sie sind ein Inbegriff von Gegenseitigkeit.
Damit ist das Mengenhafte erledigt (unter anderem der / Satz, daß
der Umfang des Begriffes und die Zahl der Merkmale umgekehrt
proportional wären). — Für die Empiristen bleibt aber innerhalb
der Merkmale wieder dieselbe Frage zurück, die gegenüber jenen
Eigenschaften der Dinge, welche vom Begriffe nicht unter die
Merkmale aufgenommen wurden, entstand: die Wesentlichkeit, das
heißt die Auswahl. Die gemeinsamen Merkmale müßten für die
Empiristen alle gleich wesentlich sein. Sie sind es aber in Wahrheit
nicht. Sie verhalten sich in Wahrheit zueinander nach ihrer Stellung
im Gliederbau der Ganzheit verschieden, das heißt sie zeigen sinn-
volle Abgestuftheit, Gegenseitigkeit. — Auch die Versuche, in der
„Zweckwesentlichkeit“ die Lösung zu finden, gehen an dem sinn-
vollen Gliederbau, das heißt den Sacherfordernissen der G a n z -