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In Wahrheit steht es so, daß der Begriff des „Höheren“ (durch
welches „Veränderung“ ja erst zum „Fortschritt“ werden kann) auf
platte Weise in den Darwinismus, wie in jede ähnliche Fortschritts-
lehre hineingeschmuggelt ist. Daß nämlich der Organismus eines
Huhns eine „komplexere“ chemische (usw.) Zusammensetzung hat
als der einer Alge oder Monere, besagt gar nichts über die höhere
Stellung des Huhnes, über den „Fortschritt“ von der Monere zum
Vogel. Um vom Fortschritt überhaupt zu reden, müssen Begriffe
wie: Höheres und Niederes, Zweck, Norm, vorher begründet wer-
den. Aus dem, was nur mechanisch, nur ursächlich, nur „komplex“
(das heißt ein Vielerlei von Ursachen) sein soll, kann ein Höheres
oder Niedrigeres überhaupt nicht hervorgehen. Daher ist jede me-
c h a n i s c h e Begründung einer s i n n v o l l fortschreitenden
Entwicklung von Anbeginn ein hölzernes Eisen.
Mit zunehmender Abkehr vom rohen Empirismus wurde dieser
Widerspruch immer mehr gefühlt. Auch kam die Naturwissenschaft
schließlich so weit, die Entstehung der Arten als unerklärbares Ge-
heimnis zu erkennen (da Mendelismus und Rassenlehre vielmehr
die Beständigkeit der Arten behaupten müssen). Darum fand eine
andere Erklärung der Entwicklung auf geschichtlichem Gebiete grö-
ßere Beachtung: die Lehre von der Aufeinanderfolge der Lebens-
stufen nach Art der leiblichen Lebensalter.
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C.
Die L e h r e v o n d e n L e b e n s s t u f e n d e r K u l t u r e n
Die alte Lehre, daß alle Völker und Kulturen eine Entwicklung
durchmachen, die durch Kindheit, Jugend und Reife schließlich zum
Alter und Tod führt, hat in der Gegenwart Oswald Spengler mit
größtem Erfolg vertreten. Spenglers Vorgänger Lasaulx beruft sich
bereits auf eine ganze Reihe alter Verfasser, unter anderen auf
Polybios, Augustinus
1
.
Die Lehre vom Verlauf der Völkergeschichte nach Art der leib-
lichen Lebensalter ist in gewissem Sinne nicht so widerspruchsvoll
wie die Fortschrittslehre, da sie vom Begriff des Organischen ausgeht,
der den des Zweckhaften (Teleologischen) schon in sich schließt.
Vgl. oben S. 24 u. 31 f.