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Wird der Einzelne als Glied der Gezweiung, wird er überhaupt
in seiner Gliedhaftigkeit gefaßt, so ist es erlaubt, zuerst von ihm
auszugehen, ohne in Atomismus zu verfallen. Man pflegt nun ge-
rade vom Einzelnen zu sagen, er sei jung, reife, altere, sterbe. Aber
das ist nur zum Teil richtig. Jener Weg ist nur der des Leiblichen
am Menschen, nicht der Weg des Geistes! Der Geist hat ein anderes
Zeitgesetz. Der Geist kennt seinem reinen Wesen nach keine Rück-
bildung. Wir sagen: seinem reinen Wesen nach, denn daß im wirk-
lichen Geistesleben auch Fehlentwicklung, Rückfall, ja Zerrüttung,
geistige Umnachtung vorkommt, ist zweifellos. Aber es gehört nicht
in die Betrachtung des Reinausgegliederten, um das es hier allein
geht. Der Leib altert s e i n e m W e s e n n a c h , sobald er seine
Reife erlangt hat. Anders der Geist. Der Geist kräftigt und stärkt
sich s e i n e m W e s e n n a c h in jeder Erkenntnis, jeder Tat; es
liegt nicht in seinem Wesen, sich durch Denken, Gestalten und Wol-
len zu schwächen. Im Gegenteile ist nicht zu bestreiten, daß jede
neu erworbene Kenntnis die Denkkraft, jede neuerliche künstlerische
Gestaltung die Bildekraft, jedes Wollen und Handeln die / Willens-
kraft des Geistes vermehrt. Das wird man ganz begreifen, wenn
man die alte Wahrheit bedenkt, die wir stets so nachdrücklich her-
vorhoben
1
: Daß das Wesen des Geistes Selbstsetzung (Spontaneität)
ist. Nicht äußerer Energieverbrauch nach stofflicher Vorstellung,
sondern Eigentätigkeit, schöpferische Eigentätigkeit ist es, wodurch
der Geist allein besteht und lebt. Dem inneren Wesen des geistigen
Fortganges nach darf man daher ruhig behaupten, ohne zuviel zu
sagen, der Geist stockt nie; und daraus wird auch begreiflich, daß
seine Ausgliederungskraft um so größer wird, je tiefer er zu neuen
Ausgliederungen schreitet. Das heißt aber geradezu: der Geist
v e r j ü n g t sich in jeder Rücknahme (wenn dieses vom leiblichen
Leben hervorgenommene Bild überhaupt gebraucht werden darf),
er wird kräftiger zur Neuausgliederung und mehrt die Fülle, aus
der er schöpft. Der Muskel verbraucht sich bei immer neuem Tun,
aber der Geist v e r b r a u c h t seinen inneren Reichtum, ver-
braucht sein Licht und seinen Glanz nicht. Der G e i s t i s t
n i c h t v e r b r a u c h l i c h , e r i s t u n v e r b r a u c h l i c h .
1
Siehe mein Buch: Der Schöpfungsgang des Geistes, Jena 1928, S. 162 f. und
209 ff. [2. Aufl., Graz 1969, S. 151 und 192 ff.].